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Heidenheimer Zeitung von 23.05.2023

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2 THEMEN DES TAGES /

2 THEMEN DES TAGES / POLITIK Habeck versucht den Befreiungsschlag Personalie Philipp Nimmermann wird Nachfolger des entlassenen Energie-Staatssekretärs Patrick Graichen. Doch damit ist die Krise im Wirtschaftsministerium nicht ausgestanden. Leitartikel Jacqueline Westermann zur Zukunft der Arbeit Kein Wundermittel Der Arbeitsmarkt von morgen – für die einen eine spannende Angelegenheit, für andere das Grauen schlechthin. Einige Berufsfelder werden wegfallen, weil ein Roboter übernimmt oder weil in der ökologischen Transformation kein Platz mehr für sie ist. Andere Berufe verändern sich aufgrund der Digitalisierung massiv, neue Erwerbstätigkeiten kommen hinzu. Damit niemand verloren geht, setzt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auf das „Wundermittel“ Weiterbildung. Deutschland möge gar eine „Weiterbildungs republik“ werden, um bestmöglich vorbereitet zu sein. Kurse und Trainings sollen als vierte Säule im Bildungssystem verankert werden und das Tor zum Branchenwechsel und für neue Aufgaben im selben Betrieb öffnen. Die Weiterbildungsquoten klettern seit Jahren – doch meist werden diejenigen nicht erreicht, die besonders profitieren würden: Berufe mit hohem Veränderungs- und Automatisierungsrisiko, Geringqualifizierte, Beschäftigte in kleinen Unternehmen, Ältere. Laut einer Studie der Hans-Böckler- Stiftung fehlt das Wissen über Angebote und gleichzeitig die Bereitschaft vieler Betriebe, die Angestellten fit zu machen. Dabei könnten sie langfristig profitieren, wenn sie einen Mitarbeiter freistellen, ist doch zum Beispiel ein Haupthindernis zur schnelleren Digitalisierung die fehlende Qualifikation bei den Fachkräften. Ein weiteres Problem: Was zählt als Weiterbildung? Und wer darf Kurse anbieten? Geht es nur um die Teilnahme oder wirklich um praxisnahes Training neuer Fähigkeiten? Wichtig wären also Fortbildungen, die sich an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes orientieren. Für eine bessere Anerkennung braucht es eine einheitliche Zertifizierung sowie ein Ende der Kommentar Hajo Zenker zur Situation in der Pflege Karikatur: Klaus Stuttmann Eine verordnete Weiterbildung wird nicht den Erfolg bringen, der möglich ist. Wichtig ist Selbsteinsicht. dezentralen Schwemme an uneinsichtigen Angeboten – und bei allem mehr Tempo. So forderte es die Industriestaaten-Organisation OECD schon vor zwei Jahren für Deutschland. Ein guter erster Schritt ist die seit Herbst im Aufbau befindliche Nationale Online-Weiterbildungs plattform des Arbeits ministeriums. Mit wenigen Klicks zum passgenauen Angebot – so das Ziel. Aber: Erst im kommenden Jahr soll die Plattform ihren Dienst aufnehmen. Nach neuem Deutschland-Tempo klingt das nicht. Doch selbst wenn es das gäbe – eine von oben herab verordnete Weiterbildung wird nicht den Erfolg bringen, der möglich ist. Ein entscheidendes Element bleibt die Selbsteinsicht. Mit dem deutschen Hang zur Beständigkeit – Motto: „Das brauchen wir nicht“ – wird man in den Umwälzungen nicht bestehen. Und damit es nicht irgendwann heißt „Ach, hätte ich nur mal ...“, braucht es Umdenken. Nicht nur junge Erwerbstätige, die noch Wissen und Fähigkeiten aufbauen müssen und wollen, sollten an Qualifizierungsmaßnahmen interessiert sein. Von einem echten lebenslangen Lernen profitieren nämlich nicht nur die Personen selbst, sondern der gesamte Arbeitsmarkt. Wer regelmäßig Neuerungen anerkennt und annimmt, dem dürfte schnell die Angst genommen werden, Veränderungen nicht zu verstehen und abgehängt zu werden. leitartikel@swp.de Schluss mit Klein-Klein Das klingt toll: Jeder, der pflegebedürftig wird, bekommt einen Betreuungsplatz. Und das ganz schnell. Rechtsanspruch auf Pflege nennt sich das, was gerade gefordert wird. Ein Staatsversprechen für einen umsorgten Lebensabend. In Ländern, in denen Gesundheit und Pflege staatlich organisiert sind, lässt sich das mit Wucht durchsetzen – wenn Geld und Personal vorhanden sein sollten. In einem System, wo es kommunale und private Träger genauso gibt wie die Freie Wohlfahrtspflege, sieht die Sache schon etwas anders aus. Was das bedeutet, kann man Eltern fragen, die zwar einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für ihren Nachwuchs haben, aber trotzdem keinen bekommen. Und dann irgendwann vielleicht vor Gericht Schadenersatz bekommen – statt eines Platzes für das Kind. Was an dem Vorschlag allerdings stimmt: Die Politik muss sich endlich bewegen. Was Deutschland braucht, ist eine echte Pflegereform. Nicht das, was der Gesundheits minister jetzt plant – höhere Beiträge für alle Beitragszahler, etwas höhere Leistungen für einige Betroffene –, nicht Besuche von Arbeitsminister und Außenministerin in Brasilien, um Pflegekräfte abzuwerben, nicht das übliche Klein- Klein also – sondern ein umfassendes Konzept. Da braucht es Förderung, um neue Einrichtungen anzuregen, da braucht es Instrumente, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, da braucht es Standards, die gute Pflege verbindlich machen, da braucht es klare Regelungen, die Pflege für die Betroffenen bezahlbar machen. Denn die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen, alle Beitrags- und Steuerzahler haben das Recht auf ein gutes Gesetz, das lange trägt. Philipp Nimmermann ist Nachfolger des entlassenen Patrick Graichen. Foto: Markus Scholz/ dpa STICHWORT PFLEGEHEIME Berlin. Vier Tage nach der Entlassung von Energie-Staatssekretär Patrick Graichen (Grüne) steht sein Nachfolger fest. Philipp Nimmermann soll neuer Spitzenbeamter im Bundes wirtschaftsministerium (BMWK) werden. Der 57-jährige Grünen-Politiker ist derzeit noch Staatssekretär im hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Graichen musste wegen Vorwürfen der Vetternwirtschaft seinen Posten räumen. Anders als sein Vorgänger ist Nimmermann kein ausgewiesener Energieexperte, sondern kommt aus der Finanzwirtschaft. Der Frankfurter war früher Chefvolkswirt der dort ansässigen BHF-Bank. Danach wurde er 2014 Finanz-Staatssekretär in Schleswig-Holstein, wo er bis zu seinem Wechsel nach Wiesbaden 2019 blieb. Rund fünf Millionen Pflegebedürftige gibt es in Deutschland, bis 2030 sollen es sechs Millionen sein. In rund 16 000 Pflegeheimen werden etwa 793 000 Menschen versorgt, die meisten werden aber zu Hause betreut. Experten zufolge ist jedes Jahr der Bau von bis zu 400 Heimen erforderlich, um den wachsenden Bedarf zu decken. Laut Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) wurden aus wirtschaftlichen Gründen seit Jahresbeginn rund 200 Heime geschlossen oder mussten Insolvenz anmelden. Dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, zufolge ändert die geplante Pflegereform nichts an der finanziellen Überforderung vieler Menschen. Das Gesetz sieht vor, den Pflegebeitrag zum 1. Juli um 0,35 Prozentpunkte anzuheben, für Menschen ohne Kinder etwas stärker. „Wir fordern eine Pflegevollversicherung“, sagte Schneider. Sie müsse alle Pflegekosten im stationären Bereich decken. epd Damit war der promovierte Volkswirt zur gleichen Zeit in Kiel tätig wie sein neuer Chef, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der an der Nordseeküste Landesminister und Vize-Ministerpräsident war. Die beiden kennen sich. Habeck hat ihn gleich mit Vorschuss lorbeeren bedacht: Nimmermann bringe ökonomischen Sachverstand und Verwaltungserfahrung mit und sei zudem ein Kenner der politischen Prozesse im Wirtschaftsministerium. Nimmermann habe mehrfach bewiesen, so Habeck, „in einem politisch aufgeladenen Umfeld breit getragene Lösungen schaffen“. Unter seiner Führung wurde die krisengeschüttelte und skandal umwitterte Landesbank HSH Nordbank privatisiert. Habeck erwartet von seinem neuen Die Kampfjet-Koalition Berlin. Die Vereinigten Staaten erlauben nun doch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an US- Kampffliegern. Was das für die Ukraine, den Krieg und für Deutschland bedeutet. Wieso konzentriert sich die Debatte auf die F-16? Der US-Kampfflieger gilt unter Experten als „formidables Flugzeug“. Es ist leistungsstark und flexibel einsetzbar; also zur Luftverteidigung ebenso wie als Jagd bomber. Zudem gehört die F-16 zu den am weitesten verbreiteten Militärfliegern weltweit. Auch europäische Partner haben Dutzende Maschinen im Bestand. Es gibt also genügend Expertise sowie genügend Ersatz teile. Liefert der Westen jetzt F-16 an die Ukraine? Das hat so konkret noch niemand zugesagt. Seit einigen Tagen gibt es zwar eine sogenannte Kampfjet-Koalition. Zu der gehören aber auch Länder, die selbst gar nicht über F-16 verfügen. Auch US-Präsident Joe Biden hat, nach langem Zögern, bislang nur sein Einverständnis für die Ausbildung ukrainischer Piloten gegeben. Wer genau wann was liefert, ist bislang offen. Wie aufwendig ist die Ausbildung? Darüber gehen die Meinungen auseinander. „Erfahrene Piloten können das in weniger als vier Monaten lernen“, sagt ein ehemaliger Luftwaffen-General und früherer Tornado-Pilot. Andere sprechen von mindestens neun bis zwölf Monaten. Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Luftwaffen-Offizier Johannes Arlt hält weniger die Ausbildung und vielmehr die nötige Wartung und Instandsetzung für die eigentliche Hürde. Er weist darauf hin, dass bei den deutschen Tornados auf eine Flugstunde 200 Mechaniker- Stunden kommen. Pflege „Rechtsanspruch auf Heimplatz“ Düsseldorf. Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) fordert einen Rechtsanspruch auf einen Platz im Pflegeheim. Eine solche Regelung würde „den politischen Druck erhöhen, die Herausforderungen in der Altenpflege beherzt anzupacken“, sagte Verbandspräsident Thomas Greiner. Die Lage in der Altenpflege sei ernst: Die Kosten explodierten, die Personallage sei angespannt, zahlreiche Pflegeheime stünde vor der Insolvenz. kna Kommentar und Stichwort Mann, dass dieser „mit einem frischen Blick“ Prozesse neu durchdenkt, unterschiedliche Perspektiven einbindet und Energie- und Wärmewende voranbringt. „Er weiß, wie sich politische Entscheidungen auf Menschen auswirken und weiß, wie man gemeinsame Lösungen findet“, sagt Habeck. Graichen wurde oft vorgeworfen, eben diese Aspekte nicht zu berücksichtigen. Kritik an Beteiligungen Doch mit dem personellen Neubeginn scheint die Krise im BMWK nicht ausgestanden. Denn mit Udo Philipp steht nun ausgerechnet Nimmermanns Nachfolger in Kiel im Kreuzfeuer der Kritik. Dieser arbeitet seit Beginn der Legislatur als Wirtschafts- Staatssekretär unter Habeck. Die Opposition greift den für Startups zuständigen Beamten wegen seines Umgangs mit Unternehmensbeteiligungen an. So bestätigte das Bundeswirtschaftsministerium, dass Philipp an der Berufung eines Beraters beteiligt war, in dessen Fonds er Geld investiert hatte. Bereits zuvor hatte er nach entsprechenden Berichten offengelegt, an vier Start-ups beteiligt zu sein. Laut BMWK war er aber dienstlich nicht mit diesen Unternehmen befasst, „insbesondere nicht mit Entscheidungen, von denen sie finanziell profitieren würden“. Philipp habe die Beteiligungen offengelegt, obwohl er dazu nicht verpflichtet gewesen wäre, heißt es aus dazu. Igor Steinle Ukraine-Krieg Die USA haben beim Thema Militärflugzeuge grünes Licht gegeben. Kanzler Olaf Scholz sieht Deutschland nicht gefragt. Sind die Deutschen raus? Danach sieht es im Moment aus: Deutschland verfügt über keine F-16, weswegen Kanzler Olaf Scholz (SPD) die Sache für erledigt hält. Er verweist auf das erst vor gut einer Woche geschnürte Paket für die Ukraine von 2,7 Milliarden Euro. Allerdings machen auch andere Länder ohne eigene F-16 wie Frankreich oder Großbritannien mit. Biden sprach beim G7-Gipfel zudem allgemein von „Kampfjets der vierten Generation, einschließlich F-16“. Das könnte darauf hindeuten, dass für ihn grundsätzlich auch Flugzeuge wie die von Deutschland genutzten Tornados und Euro fighter oder die französische Mirage infrage kommen. Wahrscheinlich ist ein solcher Typen mix in der ukrainischen Armee aber nicht. Was soll das also alles? Die Kampfjet-Koalition ist wohl vor allem ein politisches Zeichen. Es stehe für das westliche Hilfsversprechen an die Ukraine, sagt Arlt. Auch Regierungssprecher Steffen Hebestreit sprach von einem Signal an Russland, dass auch eine längere Kriegsdauer dessen Position nicht verbessern werde. Ellen Hasenkamp Heizungsgesetz Kritik an Haltung der FDP wächst Berlin. Das geplante Heizungsgesetz sorgt in der Regierungskoalition weiter für Streit. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kritisierte das aus seiner Sicht bremsende Verhalten der FDP: Es bringe stundenlange Diskussionen mit sich und nerve inzwischen auch die Fraktionsspitzen. Der Klimaforscher Mojib Latif warnte davor, die Gesetze zur „Wärmewende“ zu verschieben. Deutschland laufe in diesem Falle Gefahr, seine Klimaziele krachend zu verfehlen. dpa

Dienstag, 23. Mai 2023 3 Hintergrund So funktioniert der Bürgerrat Der Bürgerrat „Demokratie“ bei einer Sitzung im Leipzig. Basis eine Stimme geben Demokratie Wie politisch ist unser Essen? Der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ soll Empfehlungen erarbeiten. Die Klimakleber fordern unterdessen einen Gesellschaftsrat. Von Dominik Guggemos Irland als Vorbild Befürworter von Bürgerräten verweisen auf ein leuchtendes Beispiel aus Irland. Die dortige Citizens’ Assembly hat gleich zwei hochumstrittene Themen abgeräumt: Die Bürgerräte stimmten für die gleichgeschlechtliche Ehe und die Aufhebung des Abtreibungsverbots, das 1983 durch eine Volksabstimmung in die Verfassung aufgenommen wurde. Fünf Monate lang tagte die Citizens’ Assembly an den Wochenenden in einem Hotel. Zum Schluss sprach sie sich mit Zweidrittelmehrheit für ein Recht auf Abtreibung aus. In einem darauf folgenden Referendum stimmten die Wähler ebenfalls dafür – die Regierung konnte das umstrittene Thema von der Tagesordnung nehmen. In Deutschland wird wieder über Räte diskutiert. Die Klimakleber der „Letzten Generation“ fordern einen Gesellschaftsrat. Nicht zu verwechseln ist dieser Vorschlag mit dem Bürgerrat „Ernährung im Wandel“, den der Bundestag kürzlich eingesetzt hat. Er soll innerhalb eines halben Jahres Empfehlungen erarbeiten, welche politischen Entscheidungen beim Thema Ernährung sinnvoll wären. Mit ihrem Gesellschaftsrat wollen die Umweltaktivisten Beschlüsse des Bundestags erzwingen, bis 2030 auf erneuerbare Energien umzustellen. Bislang ohne Erfolg, die Abgeordneten wollen sich nicht erpressen lassen. Doch dadurch sind auch die anderen Bürgerräte in Misskredit geraten. Durch sie sollte nämlich die Demokratie gestärkt und die Lust aufs Mitmachen gesteigert werden. Moderierte und durch Expertenvorträge angereicherte Diskussionen sollten in unverbindliche Empfehlungen münden, die Arbeit am Thema die Menschen begeistern. Nötig scheint es zu sein, wie eine Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung aus dem vergangenen Jahr ergab. 51 Prozent der Befragten zeigten sich unzufrieden darüber, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Mehr als zwei Drittel fanden, es gebe zu wenig Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen. Haben die Klimakleber jetzt die Idee der Bürgerräte versaut? Der renommierte Demokratieforscher Wolfgang Merkel gibt die Hoffnung nicht auf. „Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bürgerräten und Parlamenten und Regierungen kann eine Win-win-Situation ergeben“, urteilt er. Doch dafür müssten die Empfehlungen, die der Bürgerrat entwickelt, auch ernst genommen werden. Bisher gab es zwei nennenswerte bundesweite Bürgerräte, die allerdings nicht vom Bundestag selbst eingesetzt wurden, wie jetzt „Ernährung im Wandel“. Laut Merkel waren die beiden Themen zu blumig und politisch zu irrelevant. „Beide blieben ohne ernsthafte Stellungnahme des Parlaments und hatten einen wenig demokratischen Placebo-Charakter anstelle tatsächlicher Kooperation.“ Doch Relevanz alleine reiche auch nicht aus. Das von der Letzten Generation vorgeschlagene Thema sei in zweifacher Hinsicht eine untaugliche Fragestellung, sagt Merkel. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Avantgarde schon die Antworten auf die Frage kenne, stattdessen müsse es einen ergebnisoffenen Dialog geben. Außerdem setze die Frage großes Fachwissen voraus, betont Merkel. „Da helfen auch keine physikalischen Grundkurse am Wochenende.“ Foto: Meher Demokratie, www.buergerrat.de Enttäuschte Hoffnungen Charlotte Felthöfer bezeichnet ihre Zeit als Bürgerrätin bei „Deutschlands Rolle in der Welt“ als lohnend, trotz des sicherlich komplexen Themas. Die 23-Jährige sagt: „Ich persönlich fand es sehr bereichernd und spannend.“ Aber durch ihr Studium der Politikwissenschaft habe sie auch einen speziellen Blickwinkel darauf gehabt. Für sie war das Gremium auch ein „Sozial experiment“. Es seien viele dabei gewesen, die in ihrem Alltag ansonsten nichts mit Politik am Hut hätten und die sich durch den Bürgerrat befähigt gefühlt hätten, mitzudiskutieren, erzählt Felthöfer. Die Diskussionen seien sehr sachlich abgelaufen, kein Vergleich zu dem, was man in den sozialen Medien oder auch auf der Straße so erlebe. Aber bei allem Lob für das Format weiß Felthöfer auch um dessen Grenzen: „Nur weil ich eine Frau bin, spreche ich nicht für alle Frauen in meinem Alter und meinem Bildungsstand.“ Armin Amrhein ist 62 Jahre alt und war beim Bürgerrat „Demokratie“ dabei. Dieser fand noch vor der Corona-Pandemie statt und war voll in Präsenz. Trotzdem „habe ich nicht erlebt, dass es laut geworden wäre“, erzählt Amrhein. Er findet, dass ein Bürgerrat die Bevölkerung besser abdecke als der Bundestag und dass er ein gutes Mittel sei, um den Blick der gewählten Volksvertreter zu erweitern. Aber als die ausgearbeiteten Empfehlungen dann an die Vertreter der Bundestagsfraktionen übergeben wurden, war Amrhein „von manchen Aussagen schon etwas enttäuscht“. Aus seiner Sicht braucht es „ein gewisses Feedback, was ist eigentlich aus den Empfehlungen geworden?“ Derart enttäuschte Hoffnungen befürchtet die Union auch bei dem neuen Bürgerrat zur Ernährung. Die Fraktion hat den Beschluss abgelehnt – obwohl sich Wolfgang Schäuble als Bundestagspräsident für Bürgerräte starkgemacht und selbst die Schirmherrschaft für einen übernommen hat. Fraktionsvize Steffen Bilger ist sicher, dass „Wolfgang Schäuble den Bürgerrat nicht so konzipiert hätte“. Bilger selbst hat „grundsätzliche Zweifel, ob der Bürgerrat ein sinnvolles Instrument ist“. FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Der Bundestag hat zum ersten Mal einen Bürgerrat eingesetzt. Er soll sich mit dem Thema „Ernährung im Wandel“ beschäftigen und Empfehlungen geben. Wie geht es jetzt weiter? Nachgefragt bei Claudine Nierth, Vorstandssprecherin des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“, der die Bürgerräte „Demokratie“ und „Deutschlands Rolle in der Welt“ organisiert und durchgeführt hat. „Ernährung im Wandel“ wird vom Verein in der Kommunikation unterstützt. Losgehen soll es Anfang September, Mitte Januar soll die letzte Sitzung abgehalten, im Februar der Bericht übergeben werden. Insgesamt 40 Stunden lang werden sich 160 Bürger treffen und diskutieren, virtuell und in Präsenz, voraussichtlich in Berlin. „Der Zeitplan ist ambitioniert, aber zu schaffen“, sagt Nierth. Die Teilnehmer erhalten eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzungstag in Präsenz und 50 Euro pro digitaler Sitzung. Zunächst müssen die 160 Teilnehmer gefunden werden, die einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden sollen, nach den Kriterien Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss und Ernährungsgewohnheiten – also vegan, vegetarisch oder sonstiges. Dafür werden Kommunen ausgelost, aus deren Melderegister dann die gelost werden, die angeschrieben werden. Nierth rechnet mit einer Rücklaufquote zwischen fünf und zehn Prozent. Jeder Tisch mit sieben Teilnehmern bekommt einen Moderator, der inhaltlich streng neutral auftreten und darauf achten muss, dass die Teilnehmer einander zuhören und ausreden lassen. Die Tische werden im Verlauf durchgemischt. Aber da ist noch etwas: „Bisherige Bürgerräte haben gezeigt, dass die Experten inputs extrem wichtig sind“, sagt Nierth. Dabei müssten verschiedene Sichtweisen dargelegt werden – und die Wissenschaftler ihre Inhalte so vermitteln, dass sie für jeden verständlich sind. „Wenn sie das nicht machen, muss die Moderation darauf achten und einhaken.“ Und wenn die ausdiskutierte Empfehlungen dann später von der Politik nicht umgesetzt werden, droht die Enttäuschung dann nicht umso größer zu werden? „Jeder Teilnehmer weiß, dass es keine Umsetzungspflicht gibt“, sagt Nierth. „Was die Menschen aber erwarten, ist eine Rückmeldung, was aus ihren Empfehlungen geworden ist. Und wenn sie nicht alle umgesetzt wurden, woran es gescheitert ist.“ Dominik Guggemos Unterstützerin von Bürgerräten: Bärbel Bas (SPD). ZAHL DES TAGES Athen. 11,3 Prozent der Bundestagsabgeordneten hatten 2021 einen Migrationshintergrund, wie der Mediendienst Integration ermittelt hat. Das entspricht 83 Parlamentariern. In den Landtagen waren es durchschnittlich 7,2 Prozent. Bei den Flächenländern liegt Baden- Württemberg mit 11 Prozent vorn, bei den Stadtstaaten ist es Hamburg mit 21 Prozent. epd Nach der Wahl ist vor der Wahl Trotz des deulichen Sieges der konservativen Regierungspartei bei der Parlamentswahl in Griechenland könnte es zu einer Neuwahl kommen. Die bisher allein regierende Partei Nea Dimokratia des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis lag bei etwa 40,8 Prozent und müsste zur Bildung einer neuen Regierung eine Koalition eingehen. Mitsotakis schloss ein Bündnis mit anderen Parteien jedoch aus: „Dass wir allein regieren, ist der einzige Weg, die Reformen umzusetzen, die wir planen und die das Land braucht.“ Schon im Juni könnten Neuwahlen stattfinden. dpa Wahlsieger Kyriakos Mitsotakis setzt auf eine Alleinregierung. FOTO: SOCRATES BALTAGIANNIS/DPA Sicherheit Warnung vor Desinformation Berlin. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat vor einer zunehmenden Gefährdung der Demokratie in Deutschland insbesondere durch russische Einflussnahme gewarnt: „Über alle Ebenen hinweg verbreitet Russland seine Desinformation, Propaganda und Narrative.“ Russland verfüge über gute Kanäle in weite Bevölkerungskreise hinein und nutze dabei nicht zuletzt das Internet. Diese Entwicklung müsse „Sorgen bereiten“. afp Parteien Höheres Potenzial an AfD-Wählern Berlin. Der Anteil wahlberechtigter Bürgerinnen und Bürger, für die es grundsätzlich nicht infrage kommt, die AfD zu wählen, ist weiter gefallen. Bis Mitte Mai sank der Anteil, der im vergangenen Dezember noch bei 60 Prozent lag, auf 53,9 Prozent, wie das Meinungsforschungsinstitut Insa ermittelte. Das Potenzial möglicher weiterer AfD-Wähler stieg demnach von 6,8 auf 8,4 Prozent. Für die AfD ergebe sich damit ein möglicher Stimmenanteil von mehr als 20 Prozent. afp

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