Aufrufe
vor 4 Monaten

Heidenheimer Zeitung von 22.05.2023

  • Text
  • Zeit
  • Zuschauer
  • Spiel
  • Bundesliga
  • Berlin
  • Deutschland
  • Kinder
  • Menschen
  • Foto
  • Heidenheim

2 THEMEN DES TAGES /

2 THEMEN DES TAGES / POLITIK Klimaforscher gegen Verbote und Gebote Energie Der Streit in der Regierungskoalition über Sinn und Nutzen des Gesetzes zur Heizwende geht weiter. Ein Experte plädiert dafür, das Vorhaben aufzugeben und einen anderen Weg zu beschreiten. Leitartikel Dominik Guggemos zum Höhenflug der AfD Unfreiwillige Hilfe Die AfD ist der große Profiteur des Streits über die Heizungswende und den Skandal um Vetternwirtschaft im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne). Just als das Gebäudeenergiegesetz anfing, die politische Agenda zu dominieren, begann der Höhenflug der Rechten. In vielen Umfragen steht die AfD mittlerweile vor den Grünen – dem Erzfeind also; einer Partei, die vom Einzug ins Kanzleramt träumt. Neu ist, dass die Demoskopen eine direkte Wählerwanderung von den Ampel- Parteien zur AfD beobachten. Mit einem genialen Masterplan der AfD-Parteiführung lässt sich das Phänomen nicht erklären. Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla versucht im Bundestag, die deutsche Energiewende als das dunkle Werk amerikanischer Oligarchen zu schmähen. Wer ihm bei dieser Verschwörungserzählung zuhört, stellt sich die Frage, ob er diese Informationen bei seinem Besuch der russischen Botschaft am 9. Mai erhalten hat oder im Internet. Auf 16 Prozent kommt man damit alleine jedenfalls nicht. Der AfD kommt noch eine weitere Entwicklung entgegen. Es wird wieder über Flüchtlingspolitik geredet, über die Verteilung von Asylsuchenden und finanzielle Belastungen für Länder und Kommunen. Die Bilder und die Lage sind nicht mit 2015 vergleichbar, klar. Aber schon Anzeichen von staatlicher Überforderung bringen der AfD Stimmen. Allerdings tut sich die Partei schwer damit, wie sie mit den in weiten Teilen der Bevölkerung angesehenen Geflüchteten aus der Ukraine umgehen soll. Die erprobten Ressentiments gegen Muslime laufen hier ins Leere. Stellt sich die Frage: Wenn die Fehler der Bundesregierung, die für die AfD wie ein Konjunkturprogramm Kommentar Hajo Zenker zur Aktienrente Karikatur: Heiko Sakurai wirken – ein Doppelwumms sozusagen – gelöst werden oder zumindest auf der Agenda nach hinten rücken, wird die AfD wieder einstellig und verliert bei Wahlen? So lief es in den vergangenen Jahren, als die AfD keine unfreiwillige Schützenhilfe bekam. Darauf sollten sich die etablierten Parteien allerdings nicht verlassen. Die AfD hat eine Kernwählerschaft, die mit ihr durch dick und dünn geht, die sie wegen des Hasses wählt. Aber nur mit diesen Wählern kann sie nicht viel bewirken. Gefährlich werden die Rechten immer dann, wenn sie mit einfachen Lösungen einer in zentralen Fragen dysfunktionalen Bundesregierung den Spiegel vorhalten können. Robert Kennedy, Bruder des ehemaligen US-Präsidenten und bis zu seinem frühen Tod ein progressiver Vorkämpfer, analysierte einmal treffend, dass es in jedem Land und zu jeder Zeit Menschen gebe, die die Zukunft fürchten, der Gegenwart misstrauen und die Sicherheit einer bequemen Vergangenheit beschwören, die in Wahrheit nie existiert hat. Es fällt schwer, sich einen AfD-Anhänger vorzustellen, auf den diese Geisteshaltung nicht zutrifft. Die politische Kunst liegt darin, so vielen Menschen wie möglich diese Zukunftsangst und die Gegenwartsskepsis zu nehmen. Bei den Herausforderungen, die für jeden offensichtlich auf uns zukommen, gibt es dafür jedoch keine Garantien. leitartikel@swp.de Nur eine Teillösung Dass die gesetzliche Rente immer mehr Ruheständlern alles andere als finanziell üppig ausgestattete Zeiten bescheren wird, ist sicher. Schon deshalb, weil immer weniger in Lohn und Brot Stehende immer mehr Rentnern den Lebensabend finanzieren müssen. Eine Rechnung, die nicht aufgeht, wenn alles so bleibt, wie es ist. Die CDU fordert nun, dass es neben der Rentenversicherung eine verpflichtende kapitalgedeckte Altersvorsorge geben soll. Womit man gar nicht weit weg von der FDP ist, die eine Aktienrente will, die in der Bundesregierung offiziell zum Generationenkapital wurde. Nur dass noch keiner weiß, wie das genau funktionieren soll. Bisher hat sich die Ampel nur auf zehn Milliarden Euro geeinigt, die als Kapitalstock eingesetzt werden. Viel Rendite ist davon nicht zu erwarten. Und sie wird noch dadurch beschnitten, Die Kunst besteht darin, so vielen Menschen wie möglich die Zukunftsangst zu nehmen. dass dies auf Pump finanziert wird, also Kreditzinsen anfallen. Deutschland ist, wie so oft bei Reformen, zu spät dran. Das als Vorbild geltende Schweden hat 15 Jahre gebraucht, um das Kapital anzusammeln, auch, indem zusätzlich zur gesetzlichen Rente vom Lohn Beiträge abgezogen wurden. Sollen wir also bald noch höhere Abzüge akzeptieren? Sollte man nicht auch darüber nachdenken, schlecht Ausgebildete zu qualifizieren? Das wäre nicht nur ein Mittel gegen Fachkräftemangel, sondern würde auch höhere Beiträge generieren. Was ist mit der Erwerbsquote von Frauen? Was mit der Einwanderung hoch Qualifizierter? Es kann nur heißen: Endlich weg von der Flickschusterei, hin zu einem umfassenden Konzept. Zu dem kann eine Aktienrente gehören. Allein retten aber wird sie das Rentensystem ganz sicher nicht. Der Wunsch der Regierung: Eine Wärmepumpe für jedes Haus. Foto: Silas Stein/ dpa STICHWORT CDU-PROGRAMM Hiroshima. Mehrere internationale Hilfsorganisationen haben die Beschlüsse des G7-Gipfels im japanischen Hiroshima kritisiert. Oxfam warf den Teilnehmer-Staaten entwicklungspolitisches Versagen vor: „Sie haben den Globalen Süden im Stich gelassen.“ Mit Blick auf anhaltende Waffenlieferungen an die Ukraine erklärte Oxfam: „Sie können unzählige Milliarden bereitstellen, um Krieg zu führen“, aber nicht einmal die Hälfte dessen, was die Vereinten Nationen zur Bewältigung der schlimmsten humanitären Krisen benötigten. Die G7-Staaten sagten zu, in diesem Jahr 21 Milliarden US- Dollar zur Bewältigung humanitärer Krisen zur Verfügung zu stellen. Damit soll auch auf eine sich verschärfende Nahrungsmittelknappheit in vielen Teilen der Welt reagiert werden. Die Uno hatten den Bedarf auf 55 Milliarden Dollar beziffert. Die G7- Gruppe ist der Zusammenschluss der zum Gründungszeitpunkt wichtigsten Industrieländer. Die Grundsatzprogramm-Kommission der CDU arbeitet an einem neuen Programm. Das wird diskutiert: Sozialleistungen will die CDU wieder stärker an die Bereitschaft zur Arbeit koppeln. Das gelte sowohl für Arbeitslose als auch für Asylbewerber. Weil Kinder besser auf die Schule vorbereitet werden sollen, soll es für Kinder im Alter von vier Jahren einen verpflichtenden Sprachtest geben. „Wer diesen Test nicht besteht, muss verpflichtend in die Vorschule oder in die Kita gehen, um ausreichend deutsche Sprachkenntnisse zu erwerben“, sagte CDU-Politiker Carsten Linnemann. Zum Thema Klimaschutz sagte er: Erneuerbare, Effizienz, Wasserstoff und CO 2 -Kreisläufe müssten konsequent vorangebracht werden. Als Brücke würden wasserstofffähige Gaskraftwerke gebraucht. dpa Berlin. Die Bundestags-Vizepräsidentin sucht den „Klimakanzler“ und kann ihn nicht finden. Kathrin Göring-Eckardt (Grüne) wirft Olaf Scholz vor, das Projekt Klimaschutz durch Erneuerung der Heizungen ungenügend zu unterstützen. „Wenn man als Regierung so ein Großprojekt anstößt, muss man es auch gemeinsam tragen: Davon sind wir in der Ampel leider weit entfernt.“ Und mit Verweis auf die anhaltende Debatte über das maßgeblich von Wirtschaftsminister Robert Habeck vorangetriebene Gesetz: „Das mag uns als Partei oder dem Vizekanzler aktuell schaden, aber es geht ansonsten zulasten aller, auch schon in naher Zukunft.“ Olaf Scholz äußerte sich am Rande des G7-Gipfels in Japan ebenfalls zum Thema. Er hält Änderungen am Gesetz im Bundestag für möglich. Im Interview mit RTL und ntv stellte der Kanzler allerdings auch klar, er gehe davon aus, „dass es in seiner Grundstruktur nicht verändert wird. Sondern es muss so sein, dass niemand wirtschaftlich und sozial überfordert wird“. Dem stimmt auch Katrin Göring-Eckardt zu. „Niemand darf gezwungen werden, sein Haus zu verkaufen“, sagte sie. „Und auch für Mieter darf es keine großen Belastungen geben.“ Deswegen wolle man die neue Heizung bis zu 80 Prozent fördern – „und nicht wie im aktuellen Entwurf vorgesehen nur zu maximal 50 Prozent“. Während die Grünen sich vehement gegen eine Verschiebung des Gesetzes und des Inkrafttretens Anfang 2024 wehren, setzt „Süden im Stich gelassen“ Das Kinderhilfswerk World Vision warf den G7-Ländern vor, dass es in Hiroshima weder einen Schuldenerlass für arme Länder noch einen überzeugenden Lösungsansatz für die weltweite Hungerkrise gegeben habe: „Die G7 lassen arme Länder am ausgestreckten Arm verhungern.“ Obwohl 828 Millionen Menschen weltweit ohne gesicherte Ernährung leben müssten, hätten die Regierungschefs „nur schöne Worte“ gefunden. Echte Konzepte und konkrete Zusagen fehlten. Dabei hätten die sieben Staaten die Macht und das Potenzial, um Hunger und Mangelernährung auch langfristig zu beenden. Schulze lobt Ergebnisse Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) lobte die Ergebnisse: „Die G7 bleiben dran im Einsatz gegen den Hunger auf der Welt. Während die Folgen von Russlands Angriffskrieg Millionen Menschen in Entwicklungsländern in den Hunger getrieben haben, arbeiten wir in der G7 an sich die FDP genau dafür ein. Harsche Kritik an dem Gesetzesvorhaben kommt nun aus der Klimaforschung. „Die Ampel hat sich beim Klimaschutz verheddert“, sagte der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Der Wissenschaftler plädiert dafür, dass die Bundesregierung das Heizungsprojekt aufgibt. „Meine Empfehlung wäre es, kurz durchzuatmen, einen Schritt zurückzutreten und einen neuen Anlauf für die Heizungswende zu nehmen“, sagte er. Alternative: Emissionshandel Die Alternative sieht Edenhofer in der Preissteuerung für den CO2-Ausstoß. „Den nationalen Emissionshandel mit Emissionsobergrenzen sofort arbeiten zu lassen, ist klüger als die Verbotsund Gebotspolitik.“ Die Regierung habe mit dem Brennstoffemissionshandel-Gesetz (BEHG) „wirklich alle rechtlichen Möglichkeiten schon in der Hand“. Der Klimaforscher wendet sich gegen detaillierte Vorschriften, die die Menschen nur verärgern würden und schwer durchsetzbar seien. „Eine klare Kommunikation der Regierung, die den Leuten erklärt, warum das Heizen mit Gas teurer werden muss, mit welchen Preisanstiegen zu rechnen ist und wer mit welchen Rückerstattungen vor den Preisanstiegen geschützt wird, würde von der Bevölkerung akzeptiert“, vermutet Edenhofer. André Bochow G7-Gipfel Bei ihrem Treffen haben die Regierungschefs mehr Geld zugesagt. Hilfsorganisationen sind dennoch enttäuscht. CDU Neuer Rentenvorstoß Berlin. Die CDU will neben der gesetzlichen Rentenversicherung eine verpflichtende kapitalgedeckte Altersvorsorge für alle einführen. Das sagte der Chef der CDU-Programmkommission, Carsten Linnemann. Die CDU wolle zudem Anreize für längeres Arbeiten schaffen. „Mit der Aktivrente bekommen Menschen, die das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht haben, die Möglichkeit, steuerfrei hinzuzuverdienen.“ dpa Kommentar und Stichwort Lösungen.“ Es gelte nun, die Entwicklungsländer unabhängiger zu machen von den Unwägbarkeiten des Weltmarktes. Der Globale Süden brauche dafür die Unterstützung der G7-Staaten: „Nur eine klimaangepasste, nachhaltige Landwirtschaft, die die biologische Vielfalt erhält, kann die Grundlage für eine langfristige Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln für alle Menschen sicherstellen.“ Kurz vor Beginn der Konferenz hatten katholische Bischöfe aus 23 afrikanischen Ländern an die G7-Gruppe appelliert, armen Staaten ihre „unbezahlbaren“ Schulden zu erlassen. Vor allem Afrika sei von mehreren Krisen betroffen und benötige Hilfe. Nach der Covid-Pandemie habe die Armut weiter zugenommen; immer mehr Menschen gerieten in Ernährungsunsicherheit. Die reichen Industrienationen müssten dringend etwas tun, um die sich verschärfenden Spannungen zu lindern, so der gemeinsame Aufruf der Geistlichen. kna Ermittlung Verdacht auf Vergiftung Berlin. In Berlin ermittelt das Landeskriminalamt zu möglichen Vergiftungserscheinungen von russischen Journalistinnen, die im April an einer Konferenz des russischen Regierungskritikers Michail Chodorkowski in Berlin teilgenommen hatten. Der Sachverhalt werde vom Staatsschutz bearbeitet, sagte ein Polizeisprecher. Zuerst hatte die „Welt am Sonntag“ darüber berichtet. Zwei Konferenzteilnehmerinnen hatten demnach über gesundheitliche Probleme geklagt. dpa

Montag, 22. Mai 2023 3 Wie arm sind Kinder wirklich? Soziales In Deutschland gelten knapp 2,9 Millionen junge Menschen als gefährdet. Die geplante Kindergrundsicherung soll helfen, dieses Problem zu bekämpfen. Aber wie verlässlich ist diese Zahl? Von Janine Reinschmidt Die Koalition streitet weiterhin über die Kindergrundsicherung, die Zusammenführung aller sozialen Leistungen für Kinder. Während Familienministerin Lisa Paus (Grüne) darauf beharrt, dafür pro Jahr zwölf Milliarden Euro zusätzlich zu benötigen, verweist Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf die Schuldenbremse, die keinen Raum für derart hohe zusätzliche Ausgaben biete. Dabei steht im Koalitionsvertrag: „Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen.“ Unterstützung erhält Paus von den Sozialverbänden, die seit Jahren auf das Problem Kinder armut hinweisen. Angesichts der stark gestiegenen Lebensmittelpreise heißt es gelegentlich sogar, dass Kinder Hunger leiden müssten. Gibt es gesicherte Daten über arme Kinder? Wirklich präzise Angaben über von Armut betroffene Kinder in Deutschland sind nur schwer zu finden. Die Auskünfte des Statistischen Bundesamts sind meist veraltet oder liefern keine konkreten Zahlen über Kinderarmut. Zwar brachte das Statistische Bundesamt im Mai neue Zahlen über Armut heraus, diese beinhalteten jedoch keine Angaben zu Kinderarmut. Nach Angaben der Bertelsmann Stiftung handelt es sich um 2,88 Millionen Kinder unter 18 Jahren, die in Deutschland von Armut betroffen seien. Antje Funcke, Expertin für Familie und Bildung der Bertelsmann Stiftung, sagt, für zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen sei Armut sogar ein Dauerzustand. Warum ist die Zahlengrundlage problematisch? Berechnungsgrundlage ist das Median einkommen. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens erhält, gilt als armutsgefährdet. Skeptiker kritisieren die Methode. Sie orientiert sich vorwiegend an den Einkünften und beschreibt Armut daher nur annähernd. So gelten Studenten etwa als armutsgefährdet. Eric Seils, Wissenschaftler beim Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung sagt, der Ansatz sei „willkürlich und relativ“. Die Bundesregierung hat in ihren ersten Armutsberichten neben der 60-Prozent-Schwelle auch Werte von 40 oder 50 Prozent angegeben. Inzwischen hat die Regierung diese Unterscheidung wieder aufgegeben. Es gibt nur noch die Bezeichnung armutsgefährdet. Aus diesem Grund wird die Zahl der Familien mit Kindern herangezogen, die von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld leben. Deckungsgleich seien die Zahlen aber nicht, denn einige arme Familien beantragen keine staatlichen Hilfen, obwohl sie darauf Anspruch hätten, so Funcke. Die Faktenlage ist oft diffus: Wie viele Kinder betroffen sind, ist statistisch schwer zu beziffern. Was sind das genau für Familien, deren Kinder arm sind? Besonders armutsgefährdet sind Alleinerziehende oder Familien mit drei und mehr Kindern. Statistisch gesehen leben die meisten armutsgefährdeten Familien in Bremen. Dort ist auch die deutschlandweite Quote von Kindern, die in Bürgergeld-Haushalten leben, mit 29,4 Prozent am höchsten. In Baden-Württemberg beträgt der Anteil 8,6 Prozent und in Brandenburg 10,4 Prozent. Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind auch Familien mit Migrationshintergrund oder Zuwanderer. Dazu zählen ukrainische Flüchtlingsfamilien, die nicht wie üblich nach dem Asylbewerber system Leistungen beziehen, sondern Leistungen nach SGB II erhalten. Auch hieran zeigt sich, wie ungenau die Zahlenlage ist. Die mit ihren Kindern geflüchteten Frauen aus der Ukraine dürften das Bürgergeld in der Regel nicht als Ausweis von Armut empfinden. Wie kann man Armut sonst definieren? Eine einheitliche und allgemeine Definition für Armut gibt es nicht. Der Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) orientiert sich dabei an den menschlichen Grundbedürfnissen. Dazu gehören unter anderem: Konsum und Sicherheit von Nahrungsmitteln, Gesundheitsvorsorge, Bildung und Ausübung von Rechten. Armut äußert sich demzufolge nicht nur in Geldfragen. Durst, Hunger und Obdachlosigkeit sind grundlegende Faktoren, an denen Armut sichtbar wird. Nach Angaben von Seils müssten in Deutschland keine Kinder hungern. Funcke hingegen betrachtet diese Aussage aufgrund der Inflation und des Andrangs bei den Tafeln kritisch. Was bedeutet arm sein in anderen Ländern? Die Weltbank legte Ende 2022 fest: Extrem arm ist, wer täglich weniger als 2,15 Dollar zur Verfügung hat. In Indonesien zum Beispiel ist das oftmals der Fall. Laut der Hilfsorganisation Humanium leben allein in der Hauptstadt Jakarta rund 7500 Kinder auf der Straße. Zudem haben dort viele Menschen keinen Zugang zu Nahrung, Wasser und Gesundheit. Armut und Gesundheit Arme oder armutsgefährdete Kinder und Familien ernähren sich oft nicht gesund. „Bei den Bürgergeld-Beträgen ist eine gesunde Ernährung auch kaum möglich“, sagt Antje Funcke von der Bertelsmann Stiftung. Finanzielle Engpässe wirken sich schlecht auf die Zahngesundheit aus. Einige Leistungen werden nicht von den Kassen übernommen. Das Robert-Koch-Institut stellt fest: „Die Einschulungsuntersuchungen zeigen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien häufiger körperliche, kognitive, emotionale, sprachliche und motorische Entwicklungsdefizite aufweisen als Kinder aus sozial bessergestellten Familien“. Foto: Peter Kneffel/dpa Arm sein und weniger Chancen auf Bildung – stimmt das? Armutsgefährdete Kinder legen seltener das Abitur ab und beginnen ein Studium. Das hat nicht nur finanzielle Gründe. Der Bund plante für 2023 rund 2,2 Milliarden Euro BAföG-Ausgaben ein. Zum einen liegt das Problem auch darin, findet Funcke, dass „Lehrkräfte laut Studien bei gleicher Leistung Schülern aus sozial benachteiligten Familien mitunter nicht die Empfehlung für die bessere weiterführende Schule geben“. Jasmin Kopiera, Mitarbeiterin der Organisation ArbeiterKind.de spricht auch über Informationsdefizite bei Jugendlichen aus benachteiligten Elternhäusern. „Viele haben Angst vor den Herausforderungen eines Studiums und kennen ihre eigenen Kompetenzen nicht.“ Was bedeutet es für die Wirtschaft, wenn ein Teil der Bevölkerung keinen Zugang zu einer guten Bildung hat? Kinder müssen ihre Potenziale und Talente in der Gesellschaft entfalten können; das hat auch positive Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes – etwa mehr ausgebildete Fachkräfte. Ebenso hat der Staat bei einer höheren Kinderarmut höhere Kosten, denn er muss mehr Mittel in Form von Unterstützungspaketen für einkommensschwache Familien bereitstellen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark- Watzinger fordert: „eine schnellere Digitalisierung der Bildung, eine bessere Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen und vor allem mehr Chancengerechtigkeit“. Welche Hilfen gibt es für betroffene Familien und wie werden sie verteilt? Familien mit wenig Einkommen können mehr als nur Kindergeld in Anspruch nehmen. Dazu zählen unter anderem der Kinderzuschlag oder das Bildungspaket. Letzteres kann nur beantragt werden, wenn eine Familie bereits Bürgergeld oder den Kinderzuschlag erhält. Leistungen aus dem Bildungspaket sind beispielsweise Kosten für Nachhilfe-Stunden oder Musikinstrumente. Weitere soziale Leistungen zur Unterstützung von Familien sind Elterngeld, Mutterschaftsleistungen und Mehrbedarfszuschläge für Schwangere. Ebenso gibt es die Möglichkeit, einen Unterhaltsvorschuss zu erhalten. Aus der Regierung heißt es, ein Großteil dieser Förder instrumente sei zu kompliziert gestaltet, nicht alle Berechtigten beantragen die Hilfen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) etwa sagte, dies sei nur bei 30 Prozent der Betroffenen der Fall. An wen gehen die meisten Unterstützungszahlungen? Die Bundesrepublik Deutschland hat für gut zehn Millionen Kinder im Jahr 2022 rund 48 Milliarden Euro Kindergeld ausgegeben. Für das Elterngeld stehen 2023 rund 8,2 Milliarden Euro zur Verfügung, für den Kinderzuschlag knapp 1,4 Milliarden Euro. Das sind 101 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Grund ist der Sofortzuschlag, der zum 1. Juli 2022 eingeführt wurde. Damit erhalten armutsgefährdete Kinder und Jugendliche zusätzliche 20 Euro pro Monat. Zum Jahreswechsel wurde zudem das Kindergeld pro Kind auf 250 Euro erhöht. Beim Kinderzuschlag können anspruchsberechtigte Familien ebenfalls mehr erhalten – bis zu 250 Euro. Wo soll die Kindergrundsicherung ansetzen? Die Kindergrundsicherung soll unbürokratisch Einzelleistungen vereinen, auf die Familien mit Kindern Anspruch haben. Darunter fallen: Kindergeld, Kinderzuschlag und Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Familienministerin Paus (Grüne) will darüber hinaus Familien mehr Geld zur Verfügung stellen. Christian Lindner (FDP) betont, dass bereits Kindergeld und Kinderzuschlag erhöht wurden. Die Koalition einigte sich darauf, die Leistungen in der Kindergrundsicherung zu bündeln, aber nicht unbedingt zu erhöhen. Welche Alternativen gäbe es zur Kindergrundsicherung? Sozialexperten wie der ehemalige Geschäftsführer der Caritas Georg Cremer argumentieren, dass die Grundsicherung alleine nicht ausreicht, um soziale Gerechtigkeit herzustellen, „selbst wenn diese großzügiger bemessen wäre“. Hier leiste der Sozialstaat zu wenig. Notwendig seien etwa bessere Bildung oder mehr gleichberechtigte Teilnahme (etwa durch freie Eintrittsgelder für Bedürftige). SATZ DES TAGES Ich nehme dies Kritik an, weil wir eine starke, bunte und eine mutige Demokratie sind. Claudia Roth (Grüne), Kulturstaatsministerin, nachdem sie bei einer Veranstaltung ausgebuht wurde. dpa Griechenland Erdrutschsieg für Konservative Athen. In Griechenland hat die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia die Parlamentswahl am Sonntag klar gewonnen. Die Partei von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis legte sogar zu. Das Innenministerium sah sie am Abend nach Auszählung der Hälfte der Stimmen bei 41 Prozent (2019: 39,9 Prozent). Die Linkspartei Syriza des Ex-Regierungschefs Alexis Tsipras blieb mit 20 Prozent stärkste Oppositionspartei, büßte aber mehr als 10 Prozentpunkte ein. dpa Kritik an Minister-Besuch Ein erneuter Besuch des israelischen Polizeiministers Itamar Ben-Gvir auf dem Tempelberg in Jerusalem hat Kritik ausgelöst. Ben-Gvir lobte dort die Arbeit der Polizei, die zeige, „wer in Jerusalem Hausherr ist“. Foto: Minhelet Har-Habait/afp Klimaprotest Letzte Generation im Visier Berlin. Berlins neue Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) lässt prüfen, ob es sich bei der Klimagruppe Letzte Generation um eine kriminelle Vereinigung handelt. Das Leben und der Alltag der Menschen in Berlin seien durch die Aktivitäten der Klima- Demonstranten erheblich beeinträchtigt und mitunter auch gefährdet, sagte Badenberg am Samstag. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat für diese Einschätzung bisher keine Anhaltspunkte gesehen. dpa Weißrussland USA machen sich für Häftlinge stark Washington. Die USA haben von der ehemaligen Sowjetrepublik Belarus die Freilassung von mehr als 1500 politischen Gefangenen gefordert. Die Frauen und Männer seien verhaftet und eingekerkert worden, weil sie für ihre Rechte eingestanden seien, gegen Wahlfälschung protestiert oder sich dem Krieg Russlands gegen die Ukraine widersetzt hätten, kritisierte das Außenministerium in Washington am Samstag. Viele Prozesse fänden hinter verschlossenen Türen statt. dpa

© NPG DIGITAL GMBH 2018