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Heidenheimer Zeitung 6.4.2023

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2 THEMEN DES TAGES /

2 THEMEN DES TAGES / POLITIK Pistorius startet Großmanöver im eigenen Haus Bundeswehr Genau das dürfte Kanzler Scholz von seinem neuen Verteidigungsminister erwartet haben: furchtloses Aufräumen. Aber die Sache kann auch nach hinten losgehen. Endlich eine Erklärung. Leitartikel Igor Steinle zu Künstlicher Intelligenz und ChatGPT Karikatur: Klaus Stuttmann Nicht für Deutschland Dass man technologische Revolutionen in Echtzeit beobachten kann, passiert eher selten. Gerade jetzt ist so ein Moment. Künstliche Intelligenz (KI) vermag plötzlich Dinge zu leisten, die bislang nur Menschen konnten: Texte formulieren, Bilder malen, Röntgenaufnahmen analysieren, Rechtsfragen erörtern oder sogar Musikstücke komponieren. Selten zuvor hat sich eine Technologie so schnell weiterentwickelt. Das wird enorme Folgen für die Menschheit haben. Manche sprechen bereits von einer neuen Industrialisierung, angesichts der vermuteten Auswirkungen auf Produktivität, die Arbeitswelt und technologischen Fortschritt. Und natürlich birgt KI auch Risiken. In einem offenen Brief haben Tech-Vordenker wie Elon Musk und Yuval Harari kürzlich gewarnt, KI könne die Menschheit bedrohen, wenn sie außer Kontrolle gerät. Maschinen könnten schlauer als Menschen werden, was zu unvorhersehbaren Konsequenzen führen würde. Sie fordern mehr Regulierung und ein sechsmonatiges Forschungsmoratorium, um Gefahren zu diskutieren. Die Warnung allerdings ist nicht unumstritten. Viele KI-Forscher halten solche Befürchtungen für unbegründet bis absurd. Bei Musk sind die Motive zudem fraglich. Dieser versucht laut einem Pressebericht aktuell, Top-Forscher für eine KI-Aufholjagd seines Unternehmens anzuheuern. Musk soll dabei das Gegenteil von dem anstreben, was im Brief gefordert wird: weniger Regulierung und mehr Offenheit bei der Entwicklung. Insofern käme es ihm nur recht, wenn Microsoft, das mit ChatGPT das Kräfteverhältnis in der Digitalwelt ins Wanken gebracht hat, eine Zwangspause einlegen müsste. Dennoch ist Regulierung natürlich nötig. KI-Algorithmen sollten nicht über menschliche Schicksale entscheiden dürfen, etwa in der Justiz. Angesichts des weltweiten Technologie-Wettrennens muss man jedoch vorsichtig sein, das KI-Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Genau das droht aber momentan zu passieren. So arbeitet die EU an einem Gesetz, das sämtliche potenzielle Risiken ausschließen will, indem es alle vorstellbaren Anwendungsbereiche regelt, vom Medizindienst übers autonome Fahren bis zur Übersetzungssoftware. Das Ergebnis ist ein bürokratisches Monstrum, das KI-Firmen zwingt, teils absurde Dokumentationen anzufertigen. Manche Kritiker warnen bereits davor, dass ChatGPT mit diesem Gesetz in Europa verboten werden müsste. Schon einmal dachte die EU, sie schaffe mit ihrer Regulierung einen Weltstandard, damals für den Datenschutz. Stattdessen trieb sie kleine Unternehmen und Verbraucher in den Wahnsinn und schwächte die europäische Digitalwirtschaft, während Großkonzerne wie Facebook und Google profitierten, für deren Anwaltsarmada komplexe Gesetze kein Problem sind. Diese Geschichte droht sich zu wiederholen: Start-ups planen bereits, ihre KI-Entwicklung aus der EU abzuziehen, wie eine Umfrage jüngst ergab. Zumindest vor Konkurrenz aus Europa muss Musk also keine Sorgen machen. leitartikel@swp.de Kommentar Ellen Hasenkamp zum Untersuchungsausschuss „Steueraffäre Scholz-Warburg“ Die EU arbeitet an einem Gesetz, das alle Risiken ausschließt – ein bürokratisches Monstrum. Riecht etwas nach Rache Worum es der Union geht, macht sie schon mit dem Namen deutlich. „Steueraffäre Scholz-Warburg“ soll der Untersuchungsausschuss heißen, den CDU und CSU im Bundestag gleich nach den Osterferien einsetzen wollen. Bislang war die Angelegenheit vor allem unter „Cum-Ex-Affäre“ bekannt; aber was sich hinter diesem sperrigen Namen und der zugrundeliegenden noch weit sperrigeren Sachlage verbirgt, kann bis heute kein Normalsterblicher so richtig nachvollziehen. Die Union will die Empörung nun also erleichtern, und über wen sich empört werden soll, ist auch geklärt: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der soll sich als Hamburger Bürgermeister dafür eingesetzt haben, dass die in den Skandal verwickelte Hamburger Warburg Bank unrechtmäßig erlangte Steuerrückzahlungen nicht erstatten musste. Was Scholz natürlich bestreitet. Und das übrigens auch schon zwei Mal vor einem Untersuchungsausschuss getan hat; dem der Hamburger Bürgerschaft nämlich. Angesichts der bisherigen Scholzschen Berufung auf Erinnerungslücken in den entscheidenden Fragen ist der Frust der Union verständlich und ihr Aufklärungswille begrüßenswert. Zugleich riecht die Entscheidung der Opposition so kurz nach dem Ärger rund um das Wahlrecht auch ein bisschen nach Rache. Sich fürchten muss Scholz wohl nicht, erfahrungsgemäß hat noch fast jeder Untersuchungsausschuss den Ursprungsskandal in Zehntausende Seiten Akten zerlegt. Respekt haben sollte Scholz dennoch, denn mehr noch als auf die Fakten wird es auf seine Haltung in der Sache ankommen. Und die werden nun einige Wähler mehr verfolgen. Minister Boris Pis torius (r.) baut die Bundeswehrführung um. Carsten Breuer (l.) hat er etwa schon zum General inspekteur gemacht. Foto: Bernd. von Jutrczenka/dpa Berlin. Noch ist nichts offiziell. Nachdem die „Bild“-Zeitung über den „Kehraus im Bendlerblock“ berichtet hatte, hüllte sich das Ministerium weitgehend in Schweigen. Er wolle sich „nicht an Spekulationen beteiligen“, beschied der Sprecher. Im Berliner Pressejargon ist das normalerweise die Umschreibung dafür, dass das Geschriebene zwar nicht komplett falsch, aber noch nicht endgültig entschieden ist. Demnach also plant Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) einen radikalen Umbau in seinem Haus: Rund 160 der 370 Stellen im Leitungsbereich sollen gestrichen, mehrere Stäbe aus der Leitung herausgelöst und die Büros der Staatssekretäre verkleinert werden. Gänzlich überraschend kommt das spektakuläre Manöver des Berlin. Seit zehn Jahren, betont Karl Lauterbach (SPD), werde regelmäßig über Lieferengpässe bei Arzneimitteln berichtet. „Jetzt gehen wir mit dem Gesetz ran“, sagt der Gesundheitsminister bei der Vorstellung seines Entwurfs in Berlin. Im Winter hatten viele Eltern verzweifelt nach Fiebersäften und anderen Medikamenten für ihre Kinder suchen müssen – oft erfolglos. Damit sich das nicht wiederholt, plant Lauterbach jetzt, die Rabattverträge für Kinderarzneimittel auszusetzen. Solche Verträge handeln die gesetzlichen Kassen für Generika aus, auf die kein Patent mehr gilt. Sie sind deutlich günstiger und machen mit Abstand die meisten Medikamente in Deutschland aus. Mit der neuen Regelung dürften die Arzneimittelfirmen aus dem strengen Preiskorsett ausbrechen, Preissteigerungen von 50 Prozent seien möglich, sagt Lauterbach. „Auf einen Schlag wird es interessanter für sie, nach Deutschland zu liefern oder gar hier zu produzieren.“ STICHWORT VERSCHWUNDENE IM IRAK Schätzungen des UN-Ausschusses gegen erzwungenes Verschwinden zufolge wurden im Irak während der Herrschaft der Baath-Partei und Saddam Husseins von 1968 bis 2003 bis zu 290 000 Personen beiseitegeschafft, unter ihnen 100 000 Kurden. Im Iran-Irak-Krieg 1980-1988 verschwanden bis zu 70 000 Männer und Jungen. Nach dem Sturz Husseins wurden zeitweise 96 000 Iraker in Gefängnissen unter US-amerikanischer und britischer Leitung inhaftiert, oft ohne dass ihre Familien Nachricht erhielten. Im Zuge der Beseitigung des alten Baath-Regimes verschwanden in den Jahren 2006 und 2007 Zehntausende. Während dieser Periode seien beim gerichtsmedizinischen Institut in Bagdad 20 000 Leichen abgeliefert worden. Nach dem Abzug der US-Truppen verschwanden weiter mutmaßliche Ex-Baath-Mitglieder und angebliche Terroristen. 2014 bis 2017 entführten und ermordeten Kämpfer des „Islamischen Staats“ tausende Menschen. kna Ministers nicht. Der seit knapp drei Monaten amtierende Pistorius hat bereits mehrere wichtige Personalentscheidungen getroffen. Er versetzte unter anderem den anerkannten General inspekteur Eberhard Zorn in den Ruhestand und wählte mit Carsten Breuer eine neue militärische Führungsfigur. Die Chefin des viel kritisierten Beschaffungsamts der Bundeswehr ersetzte der Minister durch ihre bisherige Stellvertreterin. Das notorische Problem-Ressort Verteidigung in den Griff zu kriegen – mit dem Auftrag hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) Pistorius nach dem krachenden Scheitern seiner Vorgängerin Christine Lambrecht ins Amt geschickt. Der macht sich nun an die Umsetzung und geht dabei offenbar Gesetz gegen den Mangel Medikamente Mit neuen Regeln will Gesundheitsminister Lauterbach Lieferengpässe bei Arzneimitteln verhindern. Und die steigenden Kosten? „Das leisten wir uns für die Kinder“, sagt Lauterbach, der eine Situation wie im vergangenen Winter nicht mehr erleben möchte. Auch bei anderen Arzneien möchte der Gesundheitsminister die Bedingungen für Rabattverträge erleichtern – aus Sicht der Hersteller. Bei Antibiotika soll es künftig zwei Lose geben. Beim ersten wird, wie bisher, der billigste Anbieter den Zuschlag bekommen – häufig mit Rohstofflieferungen aus China oder Indien. „Aber das zweite Los muss 50 Prozent seiner Produktion in Europa leisten“, sagt Lauterbach. Krankenkassen üben Kritik Außerdem will der Gesundheitsminister die Verpflichtung zur Lager haltung von Arzneimitteln auf sechs Monate verlängern. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wird ermächtigt, deutlich mehr Informationen einzuholen, um mögliche Engpässe frühzeitig zu erkennen. Diese beiden Maßnahmen gelten Irak Hunderttausende verschwunden Genf. Im Irak haben Milizen, Armee und Polizeiorganisationen in den vergangenen Jahrzehnten mehrere hunderttausend Menschen verschwinden lassen. Das geht aus einem in Genf vorgestellten UN-Bericht hervor. Viele Fälle betreffen demnach auch die Zeit der vorwiegend US-amerikanischen und britischen Besetzung von 2003 bis 2011. Die Praxis setze sich bis in die Gegenwart fort. Völlig verlässliche Zahlen gebe es nicht. kna Stichwort von oben nach unten vor. Schon in einem seiner ersten Interviews hatte er, angesprochen auf das wegen seiner Größe und seinen verkrusteten Strukturen als nahezu unführbar geltende Ministerium, geantwortet: „,Aufgebläht‘ ist ein hässliches Wort. Aber ja, 3000 Leute an zwei Standorten in Bonn und Berlin sind tatsächlich sehr viele.“ Spätestens da dürfte den Betroffenen klar gewesen sein, was ihnen blüht. Starke Beharrungskräfte Die radikalen Pläne bergen allerdings auch ein Risiko. Pistorius wäre nicht der erste Verteidigungsminister, den am Ende die Beharrungskräfte der Bundeswehr außer Gefecht setzen. Der Verband der Beamten und Beschäftigten der Bundeswehr beispielsweise schlug noch am Mittwoch Alarm und warnte vor einer „Entmachtung der Staatssekretäre“ sowie vor einem „Wandel gegen die Menschen“. Lambrecht hatte versucht, diese Gefahr zu umgehen, indem sie von Anfang an eine „Generalüberholung“ ausschloss und lieber auf das Drehen „an kleinen Stellschrauben“ setzte. Der SPD-Verteidigungspolitiker Johannes Arlt ist dennoch überzeugt, dass die Vorwärts- Strategie von Pistorius die richtige ist. „Der Minister macht sein Haus wieder führungsfähig“, sagte Arlt dieser Zeitung. „Nur wenn der Kopf funktioniert, kann auch der Rest funktionieren.“ Ellen Hasenkamp auch für Arzneimittel zur Krebsbehandlung. Die Reform der Rabattverträge allerdings fehlt in diesem Punkt, anders als noch im Referentenentwurf vorgesehen. Warum? „Wir wollen testen, wie das System funktioniert. Es sind nur wenig Onkologika nicht lieferbar gewesen – dieses Problem lösen wir mit der zweiten Schicht der Reform.“ Wie viel Geld die Maßnahmen die Krankenkassen kosten werden, kann Lauterbach nicht sagen. Er spricht von einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag, „ein Schätzwert“. Die Kassen kritisieren Lauterbachs Pläne. Die Bundesregierung setze alles auf eine Karte: mehr Geld für die Pharmaindustrie, sagt Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV- Spitzenverband. „Aber mehr Geld schafft nicht zwangsläufig mehr Liefersicherheit.“ Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, betont, dass Rabattverträge sich in der Vergangenheit bewährt hätten. Dominik Guggemos U-Ausschuss SPD kritisiert Vorstoß der Union Berlin. Die SPD wirf der Union vor, aus „parteitaktischen Interessen“ einen Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Rolle von Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Cum-Ex-Steuerskandal der Hamburger Warburg-Bank einsetzen zu wollen. Das Thema sei bereits „parlamentarisch und gesellschaftlich vollumfänglich aufgearbeitet und transparent“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Katja Mast. dpa Kommentar

Donnerstag, 6. April 2023 3 Interview „Ukraine bindet Ressourcen“ Der Sozialwissenschaftler Jan Koehler arbeitet an den Unis Osnabrück und London. Er hat viele Jahre Feldforschungen in Afghanistan und im postsowjetischen Kaukasus durchgeführt. Bilder aus zwei Ländern mit inneren Konflikten: Links schwenkt ein Mann in Tiflis aus Protest gegen ein inzwischen gescheitertes „Agentengesetz“ der Regierung die Flagge Georgiens. Rechts wettert in Chisinau Marina Tauber, Vize-Chefin der Schor-Partei, gegen die proeuropäische Regierung Moldaus. Fotos: Zurab Tsertsvadze/AP/dpa, Aurel Obreja/dpa Im Clinch mit sich selbst Konflikte Putins Feldzug gegen die Ukraine wird von heftigen politischen Kämpfen in Moldau und Georgien begleitet, wo Eliten und Wähler zwischen Moskau und dem Westen schwanken. Von Stefan Scholl Im Einflussbereich Moskaus N Bukarest MOLDAU RUMÄNIEN Chisinau Odessa Istanbul UKRAINE Schwarzes Schwarzes Meer Meer TÜRKEI 200 km RUSSLAND GEORGIEN Tiflis GRAFIK MESCHKOWSKI / QUELLE: SWP, GOOGLE Der „Krieg der Sterne“ tobt. Maia Sandu, Prinzessin des Moldau-Planeten, hat von tückischen Angriffsplänen des Imperiums erfahren. „Sie möchten uns vom Satelliten Tiraspol 90 aus attackieren“, ruft sie. So verarbeitet „Sapowednik“, die russischsprachige Satire-Animationsshow der Deutschen Welle, die Erklärung der Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, von vergangener Woche, der Kreml wolle mit als Protesten getarnten Gewaltaktionen einen Machtwechsel in der Hauptstadt Chisinau durchsetzen. Und auf Tiraspol, Hauptstadt der prorussischen Rebellenrepublik Transnistrien, die als mögliche Drehscheibe eines antiwestlichen Umsturzes in Moldau gilt. Die reale Sandu sagte, die Informationen über die russischen Putschpläne stammten von den Ukrainern. Und schon im vergangenen Herbst hätten die eigenen Sicherheitskräfte mehrere gewalttätige Provokationen verhindert. Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“ gegen die Ukraine wird von heftigen politischen Konflikten in anderen postsowjetischen Staaten begleitet – vor allem in den „Wackelstaaten“ Moldau und Georgien. Beobachter fürchten, dass diese dort wie 2014 im ukrainischen Donbass blutig eskalieren könnten. In den vergangenen Monaten gab es in Chisinau immer wieder Straßenproteste, bei denen tausende Demonstranten staatliche Ausgleichszahlungen für Gaspreiserhöhungen forderten, außerdem den Rücktritt Sandus und ihrer prowestlichen Regierung. Organisiert werden die Kundgebungen von der Oppositionspartei Schor. Dabei hält der Wahlverein des Großunternehmers Ilan Schor nur sechs von 101 Parlamentssitzen, Schor selbst lebt wegen Betrugsvorwürfen im israelischen Exil. Aber er gilt als Mann Moskaus. Russland missfällt Sandus EU- Integrationskurs, zurzeit verlangt es für seine Gaslieferungen an die Moldau den stolzen Preis von mehr als 1000 Dollar für 1000 Kubikmeter. Und Mitte März veröffentlichten das Rechercheportal „Dossier“ und andere internationale Medien Dokumente, laut denen der Kreml Moldau bis 2030 von seinem Westkurs abbringen und in Russlands Militärbündnis ODKB zwingen will – unter anderem mit Gaslieferungen als Druckmittel. Auch in der georgischen Hauptstadt Tiflis gab es im März heftige Proteste. Zehntausende Demonstranten lieferten sich mehrere Nächte lang Straßenschlachten mit der Polizei. Sie protestierten gegen ein neues „Auslandsagenten-Gesetz“, es sah nach russischem Vorbild eine Meldepflicht für Medien, Bürgerinitiativen, auch Einzelpersonen vor, die Geld aus dem Ausland erhalten. Aber die Proteste waren so wuchtig, dass die Regierungspartei „Georgischer Traum“ den Gesetzentwurf wieder zurückzog. Wie Moldau liegt Georgien seit Jahrzehnten mit sich selbst im Clinch. Auch die Mehrzahl der Georgier, vor allem der urbane Mittelstand und die Jugend, drängen nach Europa. Aber auch hier kontrolliert Russland zwei Rebellenrepubliken: Südossetien und Abchasien. Und auch hier gilt das politische Establishment unter dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili als korrupt und machtversessen. Laut Opposition hat es sich an den Kreml verkauft. Iwanischwili selbst machte sein 4,8 Milliarden Dollar-Vermögens zum Großteil in Russland, seine Regierung gibt sich im Ukraine- Konflikt neutral. Russland ist nach dem August- Krieg von 2008 in Georgien noch viel unbeliebter als in der Moldau. Andererseits gibt es hier noch mehr religiöse oder gewohnheitsrechtliche Traditionalisten, die den westlichen Liberalismus skeptisch betrachten. Und angesichts realer Armut träumt auch hier ein Großteil der älteren Bürger von der sozialen Sicherheit der UdSSR. „Nach jüngsten Umfragen wollen etwa 80 Prozent der Georgier in die EU, 41 Prozent aber bedauern den Zerfall der Sowjetunion“, sagt der Politologe Georgi Mtschedlischwili. 2024 stehen Wahlen an In der Moldau stehen 2024 Präsidentschaftswahlen an, in Georgien Parlamentswahlen, beide könnten zum Showdown zwischen pro- und antiwestlichen Kräften werden. Russland dürfte zumindest unter dem Teppich mitmischen. In der TV-Satire der Deutschen Welle beamt sich ein fledermausohriger Lukaschenko auf Sandus Kommandobrücke und schlägt ihr vor, auf die „dunkle Seite“ zu wechseln. „Und was ist mit der Freiheit?“, kontert Sandu. „Die Freiheit gibt es nur einmal“, erklärt Fledermaus-Lukaschenko, dessen Original sich seine Treue vom Kreml schon seit Jahrzehnten mit Krediten bezahlen lässt. „Aber verkaufen kann man sie oft.“ Georgien und Moldawien scheinen die Entwicklung der Ukraine zu wiederholen. In beiden Ländern verschärft sich der politische Kampf zwischen prowestlichen Kräften und solchen, die auf Moskau setzen. Jan Koehler: Die Realität ist komplizierter. In Georgien etwa ist die Gesellschaft tief gespalten, Konflikte um konkrete Fragen wie das von der Regierungspartei „Georgischer Traum“ eingebrachte Auslandsagentengesetz werden sehr unversöhnlich geführt, beide Seiten sprechen einander jedes redliche Motiv ab. Es gibt eine urbane Neointelligenz, die mit der NGO-Bewegung entstanden ist und europäische Zukunftsvorstellungen besitzt. Sie werfen dem Gegner vor, er sei von Russland gekauft. Und vor allem sie werden vom Westen wahrgenommen. Aber auf der anderen Seite gibt es auch viele Georgier, die nichts mit Russlands Politik zu tun haben wollen, aber eher konservative soziale und familiäre Werte besitzen und nicht bereit sind, das europäische Paket progressiver Normen komplett zu kaufen. Ähnliches erleben wir ja in Polen oder Ungarn. Aber das Agentengesetz und die Proteste in Moldawien wirken wie aus Moskau bestellt. Ich glaube nicht, dass Russland die moldawischen Proteste komplett organisiert hat. Und sicher ist Russland sehr nah dran an der georgischen Regierung. Nur es ist nicht so, dass ein Putin-Vertrauter einfach Iwanischwili anrufen kann, um ein Agentengesetz zu bestellen. Das hat sich der „Georgische Traum“ vermutlich selbst ausgedacht. Sozialwissenschaftler Jan Koehler. Foto: Privat Ganz ohne Einflussnahme Moskaus? Es wäre naiv, zu sagen, Russland würde nicht manipulieren. In Moldawien etwa bemühen sich die Russen, den innenpolitischen Konflikt zu schüren. Moldawien ist wie Georgien sehr nahe dran an Russlands Kerninteresse, nicht in der Ukraine zu verlieren. Plant Russland vielleicht eine Wiederholung der Donbass-Rebellion in Georgien, Moldawien oder gar einem Nato-Frontstaat wie Estland? Ich vermute, Putin würde das sofort machen, wenn er könnte. Putin hat klar zu verstehen gegeben, dass er die Nato aus Osteuropa und die USA so weit wie möglich aus Europa raus haben will. Aber die Ukraine bindet wahnsinnig viel russische Ressourcen. Und der Westen muss der Ukraine weiter helfen, um weiteres Unheil von Europa abzuwenden. Stefan Scholl ZAHL DES TAGES 6 Rauch Prozent mehr Menschen als noch 2021 haben im vergangenen Jahr Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bezogen. Knapp 1,2 Millionen Menschen seien auf diese Hilfe angewiesen gewesen, teilte das Statistische Bundesamt mit. Hauptgrund für den Anstieg sei die zunehmende Zahl an Leistungsberechtigten aus der Ukraine. dpa Bundesländer Weitere Cyberattacken Kiel. Erneut hat es Cyberangriffe auf Internetseiten öffentlicher Stellen gegeben. Das Landesportal von Schleswig-Holstein war am Mittwoch nicht erreichbar. In Brandenburg war die Seite der Polizei gestört. Am Dienstag hatten Hacker Portale von Ministerien oder der Polizei in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen lahmgelegt. Man vermute, dass die Angriffe „koordiniert waren“, sagte Sachsen-Anhalts Digitalministerin Lydia Hüskens (FDP). dpa Russland Anklage wegen Terrorismus Moskau. Nach einem Mordanschlag auf einen Militärblogger in St. Petersburg hat die russische Justiz eine inzwischen inhaftierte Tatverdächtige wegen Terrorismus angeklagt. Die 26-Jährige soll demnach auf Befehl aus der Ukraine Wladlen Tatarski, der mit bürgerlichen Namen Maxim Fomin hieß, eine mit Sprengstoff gefüllte Büste in einem Petersburger Café übergeben haben. Der kremlnahe Blogger war radikaler Befürworter des Kriegs gegen die Ukraine. dpa Raketen aus Gaza und Gegenangriff steigt über der Stadt Gaza auf, nachdem Israel am Mittwoch den Gazastreifen mit Raketen beschossen hatte. Zuvor hatten radikale Palästinenser zehn Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert. Auslöser dafür waren vorherige Konfrontationen auf dem Tempelberg in Jerusalem zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern gewesen. Laut Polizei wurden rund 350 Menschen festgenommen. Beide Seiten meldeten Verletzte. dpa/Foto: M. Abed/afp Mittelmeer 440 Migranten gerettet Rom. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat laut eigenen Angaben insgesamt 440 Mittelmeermigranten aus Seenot gerettet und auf ihr Schiff „Geo Barents“ geholt. Die aufwendige Rettungsaktion hatte schon am Dienstag begonnen, in der Nacht auf Mittwoch wurden dann die letzten Menschen an Bord gebracht, wie die Organisation mitteilte. Der Einsatz habe mehr als elf Stunden gedauert und sei wegen des hohen Seegangs sehr gefährlich gewesen. dpa

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