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Heidenheimer Zeitung 19.5.2023

2 THEMEN DES TAGES /

2 THEMEN DES TAGES / POLITIK Volker Wissings umstrittenes Gespür für den Lkw-Boom Verkehr Die Prognose des Verkehrsministeriums geht von einem enormen Zuwachs des Güterverkehrs auf der Straße aus. Mehrere Schienenverbände halten die Annahmen für irreal. Leitartikel Ellen Hasenkamp zum G7-Gipfel und dem Umgang mit China Karikatur: Klaus Stuttmann. Eine Frage der Distanz Es ist ein Begriff aus der Finanzwirtschaft, er war daher lange nur unter Experten gebräuchlich. Inzwischen allerdings gehört die etwas sperrige Bezeichnung „De-risking“ – übersetzt: Risiken verringern – zu einer der bekanntesten Vokabeln der internationalen Politik. Sie steht für das aus westlicher Sicht dringend angezeigte Verhalten im Umgang mit China: entflechten, Abhängigkeit verringern, sich in Sicherheit bringen. Für diese Zwecke entdeckt wurde der Ausdruck übrigens von der mit einem untrüglichen Gespür für Schlagworte ausgestatteten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das Wort bekam Flügel, nicht nur, weil es englisch und global verständlich ist, sondern vor allem, weil es den dringend gesuchten Mittelweg beschreibt zwischen den auseinanderlaufenden Strategien der Europäer auf der einen und der USA auf der anderen Seite. Im Umgang mit dem immer mächtiger und selbstbewusster agierenden China gab Washington nämlich zunächst die Devise „Decoupling“ vor: vollständige Entkopplung. Davon war man diesseits des Atlantiks wenig angetan; es widerspricht den wirtschaftlichen Abhängigkeiten, aber auch dem kooperativen Politikverständnis Europas. Prompt drohte eine transatlantische Spaltung im Umgang mit der wohl wichtigsten Weltordnungs-Frage unserer Zeit. Eine Frage, die auch das Gipfeltreffen der G7, der sieben großen Industrie nationen, im japanischen Hiroshima prägen wird. Ob es das Zauberwort „De-risking“, das zu Distanz aufruft und dennoch Kooperation zulässt, in die Abschluss erklärung schafft, war zuletzt zwar noch offen. In Berlin herrschte im Vorfeld allerdings Zuversicht, dass es eine „große Konvergenz“ bei einer „differenzier- Kommentar Axel Habermehl zu Grundschul-Plänen der Südwest-Grünen Die Grünen wollen also Grundschulen stärken. Das haben sie zwar schon angekündigt, bevor sie vor zwölf Jahren an die Macht in Baden-Württemberg kamen, und seitdem ist die Lage viel schlechter geworden, aber gute Vorsätze für die Nach-Kretschmann-Ära sind ja trotzdem erlaubt. Die Lage der Grundschulen muss verbessert werden, das ist klar. Viele der Vorschläge sind auch gut. Vor allem aber sind sie teuer. Daher ist es jämmerlich, dass nun auch die Grünen vor Forderungen der Lehrergewerkschaften nach höherem Gehalt einknicken. Natürlich ist jedem Menschen mehr Geld zu gönnen. Aber die Lehrerbesoldung ist nun wirklich das kleinste Problem an Grundschulen. Nur Luxemburg zahlt EU-weit besser als Deutschland. Höhere Gehälter würden wohl eine Verlängerung der Studiendauer nach sich ziehen, was ten Herangehensweise“ geben werde. Von einem „Anti-China-Gipfel“ jedenfalls will die Bundesregierung nichts wissen. Eine gemeinsame Sprache für eine gemeinsame Haltung des Westens zu finden, ist aber nur der kleinere Teil der Aufgabe. Wichtiger ist es, die Begriffe mit Leben zu füllen. Bislang ist von praktischer Risiko-Minimierung nicht viel zu sehen: Die Direkt investitionen deutscher Unternehmen im Reich der Auch im Falle Chinas hielt Deutschland am schon in Russland gescheiterten „Wandel durch Handel“ fest. Mitte zum Beispiel sind im vergangenen Jahr um über elf Milliarden Euro gestiegen. Die Importe aus China legten ebenfalls zu – unter anderem von Seltenen Erden sowie chemischen und pharmazeutischen Grundstoffen. Alles Anzeichen dafür, dass Deutschland auch in diesem Fall zu lange an seiner schon in Russland gescheiterten Idee vom „Wandel durch Handel“ festhielt. Auch dann nämlich noch, als der chinesische Übergang zu einem repressiven bis aggressiven System längst unübersehbar war. Wie schwer die Umorientierung fällt, zeigt auch das andauernde Gezerre um die lang angekündigte China-Strategie der Regierung. Den ökonomischen Verlockungen erlag zuletzt auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der aus seiner jüngsten China-Reise gar ein ziemlich schamloses Werbe filmchen machte. Von einem solchen Durcheinander der Signale allerdings wird sich Peking nicht beeindrucken lassen. leitartikel@swp.de Schmerzensgeld wäre falsch den Lehrermangel verschärft. Schon jetzt absehbar sind die Wünsche der Sekundarstufen-Lehrer, die dann auch für sich eine Erhöhung fordern. Das alles würde hunderte Millionen Euro pro Jahr kosten, aber an den Problemen an Grundschulen nichts ändern. Dort brennt aber die Hütte lichterloh. Der Lehrermangel ist groß. Ein Viertel der Viertklässler kann nicht so lesen, rechnen und schreiben, dass sie an weiterführenden Schulen weiterlernen können. Grundschulen verstärken soziale Ungleichheiten, statt sie zu mindern. Viele Lehrer arbeiten am Rande des Burnouts. All das durch bessere Bedingungen zu überwinden – Team-Teaching, bessere Diagnostik, individuelle Förderung – ist ebenso nötig wie teuer. Die begrenzten Ressourcen aber zuerst in Gehaltserhöhungen als Schmerzensgeld zu stecken, wäre ebenso fantasiewie verantwortungslos. Wie wird die Zukunft des Güterverkehrs organisiert? Wenn es nach Minister Volker Wissing (FDP) geht, hauptsächlich per Lkw. Foto: A. Stoffel/dpa Berlin. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erwartet bis 2051 einen Lkw-Boom. Deshalb hat er den beschleunigten Ausbau von Auto bahnen durchgesetzt. Bahnverbände haben seine Verkehrsprognose unter die Lupe genommen – und kommen zu anderen Ergebnissen. Fachkräftemangel Wissings Langfristprognose geht bis 2051 von 54 Prozent mehr Lkw-Verkehr aus. Das Problem benennen die Forscher: Es fehlen bereits jetzt 70 000 Fahrer. Autonome Lkw würden kaum Abhilfe schaffen, heißt es in der Prognose. „Es wird schlicht nicht genug Lkw-Fahrer geben, um ein Wachstum von 54 Prozent im Straßengüterverkehr zu realisieren“, kritisiert der Geschäftsführer der Güterbahnen, Peter Westenberger. STICHWORT GETREIDE-ABKOMMEN Nach dem Überfall auf die Ukraine hatte Russland die Getreideexporte des Nachbarlandes blockiert. Die Blockade und Sanktionen gegen Russland führten 2022 zu starken Preisanstiegen. Russland und die Ukraine lieferten vor dem Krieg fast ein Viertel der Getreideexporte weltweit. Im Juli 2022 kam die Schwarzmeer-Getreide-Initiative zustande, die von den UN und der Türkei vermittelt wurde. Das Abkommen erlaubt kontrollierte Getreideausfuhren aus den Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj (Juschny). Vertreter der UN, Russlands, der Ukraine und der Türkei kontrollieren die Schiffsladungen in Istanbul. Damit soll sichergestellt werden, dass nur Lebensmittel und keine Waffen an Bord sind. Seit dem Start des Getreidekorridors wurden der UN zufolge fast 30 Millionen Tonnen an landwirtschaftlichen Gütern exportiert. 2022 kam aus der Ukraine über die Hälfte des Weizenbedarfs für das UN-Welternährungsprogramm. dpa Lkw-Maut und Klimaschutz Die Prognose geht davon aus, dass sich der Lkw-Mautsatz bis 2040 geringfügig verändert. Die Maut ist daran gekoppelt, wie klimafreundlich Lkw sind. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Flotten immer weniger CO 2 ausstoßen, was den Mautsatz senkt. Das sehen die Bahnverbände kritisch. Aus ihrer Sicht werden die Flotten nicht im erhofften Maße erneuert. So gibt es noch keine ausreichende Ladeinfrastruktur für E-Lkw. Der Ausbau sei teuer und zeitaufwendig. Darüber hinaus gehe die Verkehrsprognose von zu niedrigen CO 2 -Preisen aus. „Die Kritik am Aufbau der Lkw-Ladeinfrastruktur können wir nicht nachvollziehen“, teilte ein Sprecher des Verkehrsministeriums mit. Die Vorbereitungen für den Aufbau liefen auf „Hochtouren“. Die Langfristprognose zeichne ein Zukunftsbild. Zwischenzeitlich veränderte Rahmenbedingungen wie etwa der CO 2 -Aufschlag auf die Lkw-Maut würden in der nächsten Prognose berücksichtigt. Kapazität und Kohle Bis 2030 werden die wichtigsten Trassen in Deutschland saniert. Das bedeutet eine Kapazitätssteigerung auf der Schiene. Dies würde in der Prognose aber nicht berücksichtigt, kritisieren die Verbände. Zudem würde der Einsatz der Digitalen Automatischen Kupplung nicht nur eine Kapazitätssteigerung von 2, sondern 15 Prozent bedeuten. Wissing geht davon aus, dass künftig vor allem Paketsendungen deutlich zunehmen, während Kohletransporte auf der Schiene abnehmen. Das sieht der Vorsitzende des Verbands der Güterwagenhalter in Deutschland (VPI), Malte Lawrenz, anders. Die Nachfrage nach der Schiene werde nicht sinken, „nur weil weniger Kohle transportiert wird. Etwa drängen die Hersteller von Wasserstoff, Flüssig erdgas und Ammoniak sowie von Waren auf Paletten zunehmend auf die Schiene“, sagt er. „Die Verbände waren von Anfang an in den Prozess der Festlegung der Prämissen eingebunden“, teilte ein Ministeriumssprecher mit. „Die Kritik der Verbände zeugt aus Sicht des BMDV von einem unterschiedlichen Verständnis von Verkehrsprognosen.“ Dorothee Torebko Ein Hausarzt bleibt der Chef Medizin Klaus Reinhardt wird beim Ärztetag als Präsident neu gewählt – nur wenige Stimmen trennen ihn von einer Herausforderin. Ukraine-Krieg Getreide-Export wird verlängert Istanbul. Russland und die Ukraine haben sich auf eine Verlängerung des Getreideabkommens geeinigt. Es gelte für weitere zwei Monate, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch. Er danke seinem „teuren Freund“, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Russland forderte, dass im Gegenzug die Blockade seiner Landwirtschaftsbank aufgehoben werde. dpa Stichwort Essen. Der Hausarzt Klaus Reinhardt bleibt für weitere vier Jahre als Ärztepräsident an der Spitze der Bundesärztekammer. Der 62-Jährige siegte denkbar knapp gegen seine Herausforderin, die Klinikärztin Susanne Johna – er erhielt am Donnerstag beim Deutschen Ärztetag in Essen 125 Stimmen, drei mehr als Johna, die die erste Präsidentin in der 150-jährigen Geschichte des Ärztetages werden wollte. Bereits in der vorherigen Wahl 2019 war eine Frau knapp daran gescheitert, in dieses Amt zu gelangen. Damit bleibt ein niedergelassener Mediziner oberster Repräsentant der deutschen Ärzteschaft, nachdem jahrzehntelang Klinikärzte den Posten bekleidet hatten. Reinhardt forderte einen echten Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik. „Das Gesundheitswesen ist kein Kostenfaktor, sondern wesentlich für unsere Gesellschaft. Und deshalb streite ich dafür, dass das Thema Gesundheit ebenso zukunftweisend diskutiert wird wie das Thema Klima“, sagte er. Die Ärzteschaft werde unter seiner Führung von der Politik einen Kurswechsel weg vom Staatsdirigismus der kleinteiligen Vorgaben, der Misstrauenskultur, hin zu einer von Verantwortung getragenen Kultur der Freiberuflichkeit einfordern. Er erinnerte auch daran, dass sich seit seinem Amtsantritt 2019 „die Welt dramatisch gewandelt hat“. Die Pandemie habe lange Zeit alles dominiert – „so hatte ich mir meine Präsidentschaft nicht vorgestellt“. Trotzdem habe man etwa die Gefahren der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens auf die Agenda setzen können, was mittlerweile bei der Politik Widerhall finde. Die 57-jährige Johna, die anschließend zur Vizepräsidentin gewählt wurde, hatte in ihrer Bewerbungsrede davor gewarnt, dass Deutschland auf eine „handfeste Krise“ in der medizinischen Versorgung zusteuere. Die Probleme seien „real, groß und wir können sie nicht aussitzen“. Deshalb müsse die Bundesärztekammer in der Öffentlichkeit präsenter sein. Sie kritisierte zudem die „unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik“, die den Patienten das Blaue vom Himmel verspreche, allerdings die Finanzierung schuldig bleibe. Zwei konkurrierende Verbände Die Wahl war auch eine Auseinandersetzung zweier Ärzte-Organisationen gewesen: Johna führt den Marburger Bund, Reinhardt den Hartmannbund. Der Marburger Bund versteht sich als Vertretung der angestellten und verbeamteten Ärzte, der Hartmannbund ist ein Berufsverband der selbstständigen Mediziner. Der 127. Deutsche Ärztetag hatte in seinen Beratungen unter anderem angesichts der Lieferengpässe bei wichtigen Medikamenten eine nationale Arzneimittelreserve und mehr Produktion in Europa sowie nachhaltige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsbildung junger Menschen gefordert. Hajo Zenker Türkei Flüchtlinge als Wahlkampfthema Istanbul. Der türkische Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu hat gut zehn Tage vor der Stichwahl ums Präsidentenamt einen schärferen Ton gegen Flüchtlinge angeschlagen. „Sobald ich an die Regierung komme, werde ich alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt“, sagte Kilicdaroglu. Laut UN leben 3,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei, der Großteil aus Syrien. Kilicdaroglu war bei den Wahlen am Sonntag hinter Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gelandet. dpa

Freitag, 19. Mai 2023 3 „Der Anschein der Parteilichkeit“: Robert Habeck (links) musste seinen Staatssekretär Patrick Graichen nach einer internen Untersuchung entlassen. Lange hielt Wirtschaftsminister Robert Habeck an seinem umstrittenen Staatssekretär Patrick Graichen (beide Grüne) fest. Nach neuen Erkenntnissen zog er nun jedoch die Reißleine. Warum stand Graichen in der Kritik? Graichen wird vorgeworfen, seinem Trauzeugen Michael Schäfer zum hoch bezahlten Chefposten der bundeseigenen Denkfabrik Deutsche Energieagentur (Dena) verholfen zu haben (s. Box). Graichen selbst war Mitglied der Findungskommission, informierte diese aber nicht über sein enges Verhältnis zum Kandidaten. Dennoch hatte Habeck zunächst an seinem Spitzenbeamten festgehalten. Er veranlasste jedoch eine interne Untersuchung, um unter anderem die Ausschreibung von Aufträgen zu überprüfen. Warum muss Graichen nun gehen? Das Fass zum Überlaufen brachte eben diese Untersuchung, die Unregelmäßigkeiten bei einer Auftragsvergabe zutage aufdeckte. Betroffen sind geschäftliche Beziehungen zum Berliner Landesverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), in dessen Vorstand die Schwester Graichens, Verena Graichen, sitzt. So habe Patrick Graichen im November 2022 eine Liste mit „Projektskizzen“ gebilligt. Bei einer davon sei es um ein Vorhaben des Berliner BUND gegangen, mit einer Summe von knapp 600 000 Euro. Ist Geld geflossen? Noch nicht, das Projekt sei jedoch als förderwürdig eingestuft worden, eine finale Entscheidung damit nur noch Folge einer Summe von Fehlern Affäre Wirtschaftsminister Robert Habeck hat seinen Staatssekretär Patrick Graichen in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Neue Erkenntnisse brachten das Fass zum Überlaufen. Die Entscheidung befeuert auch die Debatte über das Heizungsgesetz. Von Igor Steinle Formsache gewesen, so Habeck. Der Vorgang hätte Graichen weder vorgelegt werden dürfen noch hätte er ihn abzeichnen dürfen. Es handle sich damit um einen weiteren Compliance-Verstoß, also einen Verstoß gegen interne Verhaltensregeln. „Die Fehler sind unterschiedlich gravierend, und stünde jeder dieser Fehler für sich allein, würde er eine solch dramatische Konsequenz, wie wir sie heute ziehen, nicht nötig machen“, sagte der Minister. In der Gesamtschau habe Graichen sich jedoch zu angreifbar gemacht, um sein Amt auch künftig wirkungsvoll ausüben zu können. „Es muss schon allein der Anschein der Parteilichkeit vermieden werden, Verzicht auf die Abfindung Unter die „Trauzeugen-Affäre“ haben die Beteiligten am Donnerstag den Schlussstrich gezogen: Die bundeseigene Deutsche Energie-Agentur (Dena) schrieb die Stelle ihres Geschäftsführers neu aus. Ursprünglich hatte Michael Schäfer zum 15. Juni den Posten antreten sollen. Die Personalie sorgte für Kritik, weil Schäfer der Trauzeuge des geschassten Staatssekretärs Patrick Graichen ist. Graichen saß in der Findungskommission, die Schäfer für den Posten vorschlug. Dieser verzichtet nun nach Dena-Angaben auf eine Abfindung. dpa und das ist hier nicht eingehalten worden.“ Was ist mit Graichens Netzwerk? Graichens Schwester ist darüber hinaus verheiratet mit seinem Staatssekretärs-Kollegen Michael Kellner (Grüne), sie arbeitet zudem wie ihr Bruder Jakob Graichen beim Öko-Institut – einer Forschungseinrichtung, die ebenfalls Aufträge vom Bund bekommt. Das Ministerium betont zwar, dass Kellner und Graichen nicht an Ausschreibungen beteiligt gewesen seien, auf die sich das Öko-Institut hätte bewerben können. Zudem habe die interne Überprüfung ergeben, dass die Zuwendungen ans Öko-Institut unter der Ampel nicht gestiegen seien. Allerdings wurde eine Personalie rund um das Institut neu bewertet, sagte Habeck. Dabei gehe es um die Besetzung der „Expertenkommission zum Energiewende-Monitoring“, für die Felix Matthes vom Öko-Institut als Experte beauftragt worden sei. Auch hier sei die vertiefte Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass der Anschein der Parteilichkeit besser hätte vermieden werden sollen, sagte Habeck. Was bedeutet das für das Heizungsgesetz? Mit Patrick Graichen verliert Habeck seinen wichtigsten Mann für die Umsetzung der Energiewende. Er gilt als führender Experte auf diesem Gebiet, wenngleich er sich durch sein kompromissloses Auftreten viele Feinde gemacht hat, etwa als Architekt des umstrittenen Heizungsgesetzes. So dürfte sein Ausscheiden allen voran in der Gasbranche für nur wenig Trauer sorgen, hatte Graichen ihr doch mit seiner Aufforderung, das Gasnetz abzubauen, nachhaltig vor den Kopf gestoßen. Kurz nach Bekanntwerden seiner Entlassung sagte der Präsident des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW), Jörg Höhler, die Energiewende sei „zu wichtig“, um sie an einzelnen Personen festzumachen. „Der heutige Tag muss zum Anlass genommen werden, wieder zu Dialog und Sachpolitik zurückzukehren.“ Der DVGW wirbt dafür, das Gasnetz künftig für klimaneutralen Wasserstoff zu nutzen, auch für die Gebäudewärme. Auch die FDP nutzt die Personalie, um die eigene Position zu stärken: „Die von Staatssekretär Graichen angestoßenen Gesetzesvorhaben sollten vom Wirtschaftsminister nun auf ihre Praxistauglichkeit überprüft werden, allen voran das Gebäudeenergiegesetz“, sagte der Energiepolitiker Michael Kruse. Angesichts des „Machtvakuums in der Führungsspitze des Ministeriums“ müsse Habeck jetzt einen neuen, „realistischen Zeitplan“ für das Heizungsgesetz vorschlagen. CDU-Vize Carsten Linnemann forderte, das Gesetz komplett zu stoppen. Wann wird ein Nachfolger ernannt? „So schnell, wie es geht“, sagte Habeck am Mittwoch. Laut einem Bericht der „Bild“-Zeitung könnte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, Graichens Posten übernehmen. Müller stecke im Thema und könnte ohne lange Einarbeitung die Aufgaben angehen, heißt es. Noch steht eine Bestätigung aus. Eines jedoch scheint klar zu sein: „Ich werde jetzt nicht meinen Trauzeugen als Staatssekretär berufen“, sagte Habeck. FOTO: KAY NIETFELD/DPA FOTO: SOPHIE BRÖSSLER/DPA Hintergrund Baerbocks Chance Als Annalena Baerbock (Grüne) im Bundestagswahlkampf 2021 wegen ihres Buchs mit abgeschriebenen Passagen die Kanzlerschaft verspielte, war das Urteil ihres parteiinternen Konkurrenten Robert Habeck so klar wie unbarmherzig: Es seien schwere Kommunikationsfehler passiert. Da stellte sich die Frage: Hätte er es besser gemacht? Die Antwort darauf gab Habeck zwei Jahre später. Lange hat Vizekanzler Habeck an seinem nun geschassten Staatssekretär Patrick Graichen festgehalten. Statt sofort Konsequenzen aus der Trauzeugenaffäre zu ziehen, stärkte Habeck seinem Staatssekretär den Rücken. Fehler seien passiert, doch sie ließen sich beheben, erläuterte der Vizekanzler. Zugleich feuerte er in Richtung Opposition und Medien, die böswillig gewesen seien, teilweise gar Lügen verbreiteten. Ähnlich war die Partei auch vorgegangen, als die Plagiatsaffäre um Baerbocks Buch ins Rollen kam. Eigentlich wollten die Grünen in Vorbereitung auf den Kampf um die Nachfolge des Bundeskanzlers Olaf Scholz aus diesen Fehlern lernen. Nun ist Habeck aber in ähnliche Fettnäpfchen getreten wie seine Parteikollegin. Diese Kommunikationsfehler und dass Graichen nun doch seinen Posten räumen muss, könnten Einfluss auf Habecks politische Zukunft haben und ihn im Duell um die Kanzlerschaft mit Baerbock zurückwerfen. Einst ein Traumpaar Einst galten Habeck und Baerbock als Traumpaar der deutschen Politik. Sie teilten sich ein Büro, überzeugten mit ihrem partnerschaftlichen Politikstil. Zwischen sie passte kein Blatt. Doch der Kampf um die Kanzlerschaft machte sie zu Konkurrenten. Auch im Kabinett setzte sich der Wettkampf fort. Als Habeck im vergangenen Jahr über die Gasumlage zu stolpern drohte, bekam er ausgerechnet von seiner einstigen politischen Partnerin keine Rückendeckung. Nun könnte Baerbock mit Genugtuung auf die Affäre Graichen blicken. Die Grünen wollen in einer Urabstimmung über ihren nächsten Kanzlerkandidaten entscheiden. Bisher wurden Habeck dank seiner Außenwirkung von manchen bessere Chancen eingeräumt. Doch bereits vor Graichens Abschied wurde die Kritik an ihm hinter den Kulissen lauter, auch Vertrauten gefiel sein Vorgehen nicht. Das Blatt scheint sich zugunsten von Baerbock gewendet zu haben. Dorothee Torebko Vom Traumpaar zu Konkurrenten. Annalena Baerbock und Robert Habeck. SATZ DES TAGES „Ich war entsetzt.“ Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zum Auftritt von Altkanzler Gerhard Schröder auf einem Empfang der russischen Botschaft zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai in Berlin. Kinderbetreuung Bund unterstützt den Ausbau Berlin. Die Unterstützung des Bundes für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen kann fließen: Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) setzten am Mittwoch ihre Unterschriften unter die nötige Verwaltungsvereinbarung, die zuvor bereits von den Bundesländern unterschrieben worden war. Der Bund stellt für den Ausbau bis Ende 2027 knapp drei Milliarden Euro zur Verfügung. afp Prozess gegen „Vereinte Patrioten“ hat begonnen Koblenz. Der Prozess gegen fünf Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe „Vereinte Patrioten“ am Oberlandesgericht in Koblenz hat begonnen.Den Angeklagten wird vorgeworfen, die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und den Sturz der Bundesregierung geplant zu haben. Mehrere der Angeklagten kündigen über ihre Anwälte an, sich zu den Vorwürfen äußern zu wollen. Nach der Anklageverlesung und einigen Anträgen war am ersten Prozesstag zunächst Schluss, die Verhandlung wird am kommenden Mittwoch fortgesetzt. dpa Ein Mitglied der Gruppe wird in den Verhandlungssaal gebracht. FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Ukraine Truppen rücken weiter vor Bachmut. Im Raum der seit Monaten umkämpften Stadt Bachmut haben die ukrainischen Truppen weitere Geländegewinne erzielt. „Es gelang innerhalb eines Tages zwischen 150 und 1700 Metern voranzukommen“, erklärte der Sprecher der Armeegruppe Ost, Serhij Tscherewatyj, am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen. Konkretere Ortsangaben machte er nicht. Der Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, bestätigte den ukrainischen Vorstoß. dpa

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