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Heidenheimer Zeitung 18.1.2024

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4 INTERVIEW Donnerstag,

4 INTERVIEW Donnerstag, 18. Januar 2024 Meron Mendel hat seinen Arbeitsplatz mit dem Bild einer Wüstenlandschaft geschmückt. Im Vordergrund ein einzelner Baum, der einen neuen Spross austreibt. Er könnte für Hoffnung stehen, die der deutsch-israelische Pädagoge nicht aufgeben will. Nach einem Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern suchen, trotz des Hamas-Terrors und des israelischen Militäreinsatzes in Gaza? Im Zoom-Gespräch sagt der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, warum daran kein Weg vorbeiführen wird. Herr Professor Mendel, Sie haben Familie in Israel. Was hören Sie drei Monate nach Kriegsbeginn? Ich habe Freunde, die ermordet wurden, und einen Freund, dessen 19-jährige Enkelin noch immer in Geiselhaft der Hamas ist. Dennoch entwickelt sich eine Art Alltag in der Krise. Die Kinder gehen wieder in die Schule. Erwachsene arbeiten. Doch die Situation bleibt schwierig. Schon vor dem Krieg war Israel eine gestresste Gesellschaft. Jetzt werden wieder Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert. Was macht das mit den Menschen? Schon vor dem 7. Oktober war 2023 ein schwieriges Jahr. Hunderttausende gingen auf die Straße gegen den Abbau der Demokratie, wie ihn die ultranationalistische Regierung betrieben hat. Das ist gemessen an der Bevölkerung eine beispiellos hohe Zahl. Nach einem Jahr der Proteste und nach 100 Tagen Krieg sind die Menschen erschöpft. Und doch halten sie an ihrer Hoffnung fest, dass sich etwas zum Guten verändern lässt. Nach dem 7. Oktober hat die Zivilgesellschaft viele staatliche Aufgaben übernommen, wie die Versorgung der Flüchtlinge aus den Ortschaften an der Grenze zum Gazastreifen und zum Libanon mit Essen, mit Kinderbetreuung. Das ist beeindruckend, zeigt aber auch, wie schwer das Leben derzeit ist. Befürchten Sie, dass der Krieg jene stärkt, die ganz auf Härte setzen und partout keinen Ausgleich mit Palästinensern wollen? Es gibt Teile der Gesellschaft, die zu Vergeltung und Vernichtung rufen. Bei ihnen führten die Gräueltaten vom 7. Oktober zu Rachsucht. Zumindest lese ich davon. Meine Familie und Freunde dort sind anders. Da sehe ich eine verzweifelte Suche nach einem Ausweg aus der Gewaltspirale – in der Hoffnung, dass es auch auf palästinensischer Seite Menschen gibt, die an Frieden interessiert sind. Wie schauen Sie auf den israelischen Einsatz in Gaza, wo mehr als 23 000 Menschen ums Leben gekommen sind und Hunderttausenden das zum Leben Nötigste fehlt? Unmittelbar nach dem Hamas-Überfall gab es den Ruf: Waffenstillstand jetzt. Das empfand ich als arroganten Ausdruck von Menschen, die in Sicherheit leben. Sie sprachen Israel angesichts des beispiellosen Terrorangriffs der Hamas das Recht ab, sich zur Wehr zu setzen. Auf der anderen Seite sind die Zustände im Gazastreifen unerträglich. Mich persönlich schmerzen getötete palästinensische Kinder genauso wie getötete israelische Kinder. Unverständlich ist mir, warum Israel humanitäre Hilfe eingeschränkt hat. Man weiß ja, dass die Hamas die Zivilbevölkerung als Faustpfand benutzt. Ohne Antwort bin ich bei der Frage, wie man die Hamas bekämpfen kann, ohne Zivilisten zu gefährden. Ob das massive Vorgehen der israelischen Armee richtig ist, bezweifle ich inzwischen. Angehörige der Geiseln, die sich seit dem 7. Oktober in Gefangenschaft der Hamas befinden, bei einem Pressegespräch. Der Alltag in Israel gehe weiter, sagt der deutsch-israelische Historiker Meron Mendel. Aber die Situation bleibe schwierig. Fotos: Christoph Soeder/dpa/Gedenkstätte Anne Frank „Der Konflikt ist für viele identitätsstiftend“ Meron Mendel Der Angriff der Hamas hat nicht nur Israel traumatisiert, er reißt auch in Deutschland Gräben auf. Warum das so ist und warum Israel in seinem massiven Vorgehen Schutz vor einer Gewaltwelle aus dem Libanon sieht, erklärt der deutsch-israelische Historiker. Von Elisabeth Zoll Israel drohen auch massive Angriffe aus dem Libanon. Gleicht der harte Kurs Israels nicht Benzin, das in eine bereits explosiv aufgeladene Region gegossen wird? Das ist die Wahrnehmung in Deutschland. Doch der Nahe Osten funktioniert nicht nach den Regeln Westeuropas. Die radikalislamische Hisbollah im Libanon schaut genau hin, wie Israel auf die Hamas reagiert. Wenn Israel nicht Härte zeigen würde und auf Forderungen nach einem schnellen Waffenstillstand eingegangen wäre, hätte das die Hisbollah ermutigt, Israel massiv aus dem Norden anzugreifen. Das war vermutlich Teil des Plans der Hamas. Dass es dazu nicht gekommen ist, hat mit dem Druck im Libanon auf die dort agierende Hisbollah zu tun, kein zweites Gaza im Libanon zu riskieren. Terroristische Aggressoren – dazu gehört auch Putin nach der Annexion der Krim – verstehen Zurückhaltung oft als Zeichen der Schwäche. Kann es dann nach diesem Krieg noch eine Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft von Israelis und Palästinensern geben? Die jüdischen Israelis werden in der Region bleiben – die Palästinenser auch. Deshalb müssen sie Formen des Zusammenlebens für eine Region finden, in der aktuell sieben Millionen jüdische Israelis und sieben Millionen Palästinenser leben. Würde eine der auf beiden Seiten existierenden Vernichtungsvisionen zum Zug kommen, hätten wir eine Katastrophe mit dem Ausmaß des Holocausts. Ich selbst glaube noch an das Modell der Zwei-Staaten-Lösung. Andere sprechen von einem gemeinsamen demokratischen Land. Da habe ich Zweifel, weil beide Seiten ihre nationale Identität nicht aufgeben wollen. Anfang der 90er unter Premier Jitzchak Rabin war die Gründung eines palästinensischen Staates sehr nah. Seither ist viel passiert. Das Westjordanland ist heute zerstückelt. Ist eine Zwei-Staaten- Lösung überhaupt noch realistisch? Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland sollten eine Zwei-Staaten-Lösung torpedieren. Und ich hatte zeitweise die Befürchtung, dass dieses Ziel unter der jetzigen Regierung erreicht wird. Das ist aber noch nicht der Fall. Schon in der Vergangenheit waren Friedensabkommen mit dem Abbau von Siedlungen verbunden. Das heißt nicht, dass bei einem Friedensabkommen alle jüdischen Siedler das Westjordanland verlassen werden. Da braucht es dann einen Gebietstausch. Vielleicht werden die beteiligten Staaten auch nicht in Gänze unabhängig sein. Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Modell wie die Europäische Union für den israelischen, den palästinensischen und den jordanischen Staat gibt. Dieses setzt Vertrauen voraus. Ist Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der Mann, der für eine Friedensvision stehen könnte? Netanjahu und seine Partner aus dem rechtsextremistischen Lager sicher nicht. Wie lange es dauert, bis er seinen Platz räumt, kann niemand sagen. Mich schmerzen getötete palästinensische Kinder genauso wie getötete israelische Kinder. Meron Mendel Pädagoge und Historiker Im Kibbuz aufgewachsen Meron Mendel, Jahrgang 1976, ist in Israel geboren. Dort wuchs er in einem Kibbuz auf. Nach seinem Wehrdienst in der israelischen Armee studierte er in Haifa und München Pädagogik und Jüdische Geschichte. Er ist heute Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurter University of Applied Sciences. Seit 2010 leitet er die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Er ist mit der Politologin Saba-Nur Cheema verheiratet, die Muslima ist. Von Meron Mendel erschien im vergangenen Jahr das Buch „Über Israel reden: Eine deutsche Debatte“, Kiepenheuer & Witsch. Es ist für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Persönlich haben Sie Kontakt zu Menschen, die Ausgleich suchen. Wie stark ist diese Kraft in Israel? Schwer zu sagen. Linke Parteien sind bei der Parlamentswahl weitgehend gescheitert. Die Meretz-Partei ist nicht mehr in die Knesset gekommen, die Arbeitspartei erzielte vier Prozent, auch die jüdisch-arabischen Parteien sind schwach. Wenn man aber in die Bevölkerung hineinhört, gibt es zwei große Wünsche: Israel soll ein starker Staat sein, damit das Land nicht mehr überrannt werden kann wie am 7. Oktober. Diese Erfahrung hat Israel zutiefst erschüttert. Zugleich gibt es den Wunsch nach einer friedlichen Lösung des Konflikts. Das heißt, es formiert sich gerade eine Friedensbewegung, die alles andere als pazifistisch ist. Israelis und Palästinenser lebten in der Vergangenheit oft Rücken an Rücken. Sie selbst sind in einem Kibbuz aufgewachsen. Wann haben Sie Palästinenser kennengelernt? Die Frage ist, was man unter Kennenlernen versteht. In Israel leben Juden mit Palästinensern zusammen. Auf jeder Baustelle gibt es jüdische und palästinensische Arbeiter. Die Frage ist: Wann entstehen Freundschaften? Dazu muss man wissen, dass das israelische Bildungssystem in hohem Maße segregiert ist. Es gibt dort nicht nur Schulen für Juden und Palästinenser, sondern auch für religiöse Juden und nichtreligiöse, für orthodoxe und ultraorthodoxe. Die Trennung fängt schon im Kindergarten an. Israelische und palästinensische Kinder haben nicht mal die Gelegenheit, miteinander zu spielen. Das fördert das Schubladendenken. Deshalb unterstütze ich seit vielen Jahren einen jüdisch-arabischen Kindergarten und eine Grundschule in Be’er Scheva. An diesem Punkt kann ein neues Miteinander anfangen. Woher kommt dieses Denken? Hat Sie da der Kibbuz geprägt? Das ist das Resultat einer Entwicklung. Mich haben zunächst die 90er-Jahre mit ihrer Friedenshoffnung geprägt. Im Friedensdorf Newe Shalom konnte ich palästinensische Jugendliche kennenlernen. Dann folgte später mein Militärdienst in Hebron. Da habe ich gesehen, wie jüdische Siedler die palästinensische Bevölkerung schikanieren. Später dann an der Uni in Haifa versuchte ich, die unsichtbaren Mauern zu meinen palästinensischen Kommilitonen mit Diskussionen und Veranstaltungen einzureißen. Das ging gut, bis im Sommer 2000 die zweite Intifada ausgebrochen ist. Sie sind heute Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Hat der Krieg in Nahost Auswirkungen auf Ihre Arbeit? Ja. Immer wenn es Spannungen zwischen Hamas und Israel gibt, nehmen die Anfeindungen gegenüber Juden zu, aber auch die gegenüber Muslimen. In den sozialen Netzwerken wird dann gehetzt, werden Halbwahrheiten und pure Fake News verbreitet. Das führt zu Hass gegen den Staat Israel, der dann umgeleitet wird auf Juden in Deutschland. Die Beobachtungsstelle RIAS für Antisemitismus meldet seit dem 7. Oktober durchschnittlich 26 antisemitische Vorfälle – pro Tag. Wir haben uns in Deutschland viel auf die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen eingebildet und die Aufdeckung von Mechanismen, die zum Holocaust führten. Waren wir da wirklich so gut, wie wir dachten? Die Erinnerungsarbeit ist nicht zwangsläufig eine Immunisierung gegenüber aktuellem Menschenhass und Antisemitismus. Man kann sich schon fragen, warum die AfD, die doch eine gewisse Nähe zur menschenverachtenden Ideologie der Nazis hat, derzeit so einen Zulauf hat. Hinzu kommt: Erinnerungskultur muss sich ständig wandeln. Wir wissen aus Studien, dass Jugendliche zwischen sechs und acht Stunden am Tag mit ihrem Smartphone verbringen. Da erhalten sie oft wenig qualifizierte Informationen. Dem etwas entgegenzuhalten, ist eine Herausforderung. Haben Sie Ideen? Auch wenn uns diese Informationskanäle nicht liegen, müssen wir sie in der Bildungsarbeit nutzen. Wenn wir da nicht aktiver werden, verlieren wir den Kampf. Der Nahost-Konflikt spaltet auch öffentliche Debatten. Fehlt uns eine adäquate Sprache, um fair darüber zu sprechen? Es ist weniger eine Frage der Sprache. Oft fehlt das Wissen. Das gilt zwar auch für andere Konflikte, doch der Nahost- Konflikt wirkt direkt in die Gesellschaft hinein. Er ist für viele identitätsstiftend. Ob man auf der jüdischen oder der palästinensischen Seite steht, sagt etwas über die eigne Person aus – mehr als über die Menschen dort. Sie arbeiten als Brückenbauer. Wurden Sie selbst schon einmal als Antisemit beschimpft? (Schmunzelt) Wenn man in diesem Bereich unterwegs ist, bekommt man alle Attribute, die auf dem Markt sind. Auch das Attribut des Antisemiten.

5 SÜDWESTUMSCHAU Donnerstag, 18. Januar 2024 Die dunkle Vergangenheit ruht im Bunker Historie In den Tiefen des Stuttgarter Gesundheitsamts verbirgt sich ein düsterer Ort: ein vergessener Krankenhausbunker. Er macht Geschichte erlebbar – und NS-Verbrechen sichtbar. Von Verena Eisele Rolf Zielfleisch ist vorangegangen in den Raum, auf dessen Tür die Nummer 2 steht. Es ist kalt und dunkel, die nackten Betonwände leuchten schwach hellgelb. An ihnen sind die Spuren vorbei schrammender Betten eingraviert. Dann schaltet Zielfleisch das Licht an. Man zuckt zusammen. In der Mitte des Raums steht ein Mensch, der sich über einen OP-Tisch beugt. Er trägt OP-Kittel, Maske und eine altertümliche Stirnleuchte. Alte medizinische Geräte, wie ein Beatmungsgerät mit einer Äther-Flasche aus Glas und Gummischläuchen, sammeln sich um ihn. Daneben liegen auf einem Tischchen mehrere Instrumente: eine Geburtszange mit zwei langen Griffen; ein Bluttransfusionsset, das die direkte Blutübertragung von Mensch zu Mensch ermöglicht; ein Hauthobel, der bei Verbrennungen die Haut abzieht. Er liegt schwer in der Hand. Im ersten Moment ist nicht erkennbar, dass der vermeintliche Chirurg in Wahrheit eine Schaufensterpuppe ist. „So eine Führung hat auch immer etwas Schauriges“, sagt Zielfleisch. Der Rentner ist der Vorsitzende des Vereins „Schutzbauten Stuttgart“. Dieser widmet sich der Geschichte und Dokumentation von Räumen, deren vorrangiger Bauzweck der Schutz der Bevölkerung gewesen ist, zum Beispiel Bunker.An einem kalten, schneereichen Januartag führt Zielfleisch durch solch einen Ort: ein ehemaliger Krankenhausbunker aus dem Zweiten Weltkrieg unter dem heutigen Gesundheitsamt in Stuttgart. Bevor die Behörde in das Gebäude einzog, befand sich hier eine Frauenklinik. Bereits 1934 waren in deren Keller Luftschutzräume integriert worden, allerdings ohne OP-Räume. Deshalb wurde 1940/41 unter dem Garten in wenigen Monaten ein Bunker errichtet. Zwangsarbeiter aus Frankreich mussten beim Bau mithelfen. Der Bunker bot Platz für 28 Intensivpatienten und diente der Klinik bei einem Luftangriff als Operationsstätte. Um hineinzugelangen, steigt man im Treppenhaus der Behörde lediglich ein paar Stufen hinunter. Ein Pfeil mit der Original- Aufschrift „Zum Bunker“ auf der grauen Betonwand zeigt den Weg an. Ein langer, neonflimmernder Korridor erstreckt sich Besuchern. An seinem Ende kommt man vor einer dicken Tür an – „Gasschleuse“ steht auf der Wand dahinter. Ihre Aufgabe war es, das unkontrollierte Eindringen von Giftgas zu verhindern. Die komplette Technik für das Betreiben des Bunkers wurde nach dem Krieg jedoch entfernt und wiederverwertet. Das wird an der Decke deutlich: Keine Metallrohre und Kupferkabel zu sehen, nur kahler, angeranzter Beton. Das eigentliche Herz des Bunkers liegt aber dahinter: Wieder stößt man auf einen langen Korridor, dieses Mal mit zehn Türen ausgestattet. Alle durchnummeriert. Hinter jeder Tür wartet ein Raum mit einer anderen Funktion. Zielfleisch öffnet die Tür mit der Nummer 1. Ein alter gynäkologischer Stuhl steht in der Mitte des Raums im Schein des allgegenwärtigen, grellen Neonlichts. Sein Bezug ist vergilbt. Davor steht eine OP-Lampe, daneben eine alte Babywaage. Das Licht geht aus. Plötzlich ist es stockfinster. Wie viele Frauen wohl unter diesen Bedingungen in den Wehen lagen? Die NS-Gesundheitspolitik ist in Stuttgart bisher kaum aufgearbeitet worden. Rolf Zielfleisch „Schutzbauten Stuttgart“ Der OP-Saal im Bunker mit einer Schaufensterpuppe als Chirurg. Die Ausstattung mit alten medizinischen Geräten und Möbeln hat der Verein „Schutzbauten Stuttgart“ gesammelt. Fotos: Verena Eisele Verschiedene Instrumente, unter anderem der Hauthobel und ein Haken, der zur Abtreibung benutzt wurde. Fluoreszierende Wände Zielfleisch fährt mit dem Licht an seinem Handy an den Wänden entlang. Überall dort, wo es die Wand berührt, leuchtet die Stelle schwach gelb auf. Das liegt daran, dass der OP-Raum komplett in fluoreszierender, radioaktiver Farbe gestrichen ist. Dank eines zusätzlichen Notstromaggregates konnten Chirurgen so trotz Dunkelheit operieren – zumindest für eine Stunde, so lange hätte die Strahlkraft damals ausgereicht. Während des Kriegs gab es in Stuttgart 550 Alarme und 53 Luftangriffe. Bei jedem Alarm brachte das Personal die Patienten hinunter in den Bunker. „Sie haben Ungeheures geleistet“, sagt Zielfleisch. Er schaltet das Licht wieder an. Hier behandelten Gynäkologen unter anderem die dramatisch ansteigenden Gebärmuttervorfälle in der Kriegszeit. Aufgrund schwerster Arbeit der Frauen in der Industrie und deren Mitarbeit beim Stollenbau verdoppelte sich die Anzahl an solchen Vorkommnissen: Während es 1939 noch jährlich 35 solcher Vorfälle gab, waren 1944 rund 80 Frauen davon betroffen. All diese Arbeit klingt heroisch. Dann zeigt Zielfleisch auf ein Regal neben dem Stuhl. Dort liegt eine Art Haken – ein Instrument, das zur Abtreibung verwendet wurde. Es ist ein Symbol für die furchtbaren Geschichten, die der Bunker birgt. Er ist nämlich auch ein Ort, wo Ärzte NS-Verbrechen begangen haben. Sie führten in der Frauenklinik die ersten Zwangsabtreibungen und -sterilisationen durch. Der Bunker unter dem Gesundheitsamt ist ein Zeugnis dieser Verbrechen. Es ist besonders, dass er noch existiert, denn von allen gebauten Bunkern im Dritten Reich ab 1940 machten Krankenhausbunker lediglich fünf Prozent aus. Mittlerweile steht das komplette Gebäude unter Denkmalschutz. Der Verein kümmert sich seit 2018 um den Bunker und bietet Führungen an. Zur Veranschaulichung stattete er ihn mit altem Operationsequipment aus. Dadurch will der Verein die bisher kaum aufgearbeitete NS-Gesundheitspolitik in Stuttgart aufzeigen. Man stehe in der Landeshauptstadt bei diesem Kapitel noch ganz am Anfang, sagt Zielfleisch. Er ist in den Raum mit der Nummer 8 gegangen. Hier stehen drei Betten, in einem liegt wieder eine Schaufensterpuppe. Ein Kinderbett steht an der Wand. Wieder ein Sinnbild für die Verbrechen von Ärzten. Die abgerissene Kinderklinik „Olgäle“, die Vorgängerin der heutigen Olgaklinik, war unterirdisch mit dem Bunker Führungen durch den Krankenhausbunker Der Bunker ist für die Öffentlichkeit zugänglich, allerdings nur als Gruppenführung und unter der Woche, da eine Besichtigung an die Öffnungszeiten des Gesundheitsamts gebunden ist. Pro Person kostet solch ein Besuch neun Euro. Auf der Website des Vereins „Schutzbauten Stuttgart“ ist eine Anmeldung möglich: www. schutzbauten-stuttgart.de Das Transfusionsset für die direkte Blutübertragung. verbunden. Deshalb wurden mehrere Kinder hier behandelt und durch den Gang verlegt. Kinder systematisch ermordet Manche von ihnen, meistens Kinder mit Behinderung, fielen der organisierten Tötung durch die Nazis zum Opfer. Viele Ärzte wurden dafür nie zur Rechenschaft gezogen, wie etwa der Chefarzt der städtischen Kinderklinik, Dr. Karl Lempp. Der verbindende Gang ist bis heute noch nicht gefunden worden, muss aber noch existieren. Nach dem Krieg war die Frauenklinik komplett zerstört, der Bunker hielt jedoch stand. Um 1970 zog das Gesundheitsamt in das wieder aufgebaute Gebäude. Zielfleisch steht jetzt wieder im Bunkerkorridor. Die Führung ist zu Ende. Durch die Gasschleuse geht es zurück in die Lobby des Gesundheitsamts. Menschen gehen geschäftig ein und aus. Zwei Welten in einem Gebäude – zwei Welten, die aufeinanderprallen. Die Vergangenheit ruht im Bunker. Die Gegenwart zieht in der Eingangshalle der Behörde vorbei. Kretschmann fordert einen breiten Dialog Proteste Die Krise in der Landwirtschaft sei lange gewachsen, findet der Politiker. Er wirbt für einen Gesellschaftsvertrag. Winfried Kretschmann wirbt für Dialog. Foto: Bernd Weißbrod/dpa Hohenheim. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat einen Gesellschaftsvertrag zur Zukunft der Landwirtschaft vorgeschlagen, über den sich auch wechselnde Landesregierungen nicht leicht hinwegsetzen könnten. An der Universität Hohenheim machte er am Dienstagabend deutlich, dass über Jahrzehnte gewachsene Probleme nicht durch einzelne Subventionen oder Steuererleichterungen zu lösen seien. Die Krise der Landwirtschaft wurzele in einer falschen Politik insbesondere auf EU-Ebene, mehr noch aber in einer falschen Kultur, erklärte der Regierungschef beim Hohenheimer Agrardialog „Landwirtschaft 2050“: „Weil die Menschen nicht mehr wissen, was die Landwirtschaft für die Gesellschaft leistet und was Lebensmittel wert sind.“ Handel und Konsumenten müssten bereit sein, auskömmliche Preise zu zahlen. Fairer Handel sei nicht nur etwas für Kaffee und Bananen, wo er übrigens durchaus funktioniere. In einem knapp 40-minütigen Vortrag erklärte Kretschmann, der Ausgangspunkt müsse ein breiter gesellschaftlicher Dialog sein, bei dem Dinge durchgesprochen würden, bis ein gemeinsames Verständnis erreicht sei. „In Baden-Württemberg haben wir einen entsprechenden Prozess längst gestartet – den Strategiedialog Landwirtschaft“, warb er für das seit 2022 tagende Gremium aus Landwirtschaft, Verarbeitung, Handel, Naturschutz und Wissenschaft. Die Ergebnisse werden im Oktober erwartet. Inhaltlich hielt sich Kretschmann deshalb zunächst noch bedeckt. In der anschließenden Diskussion wurde er teils aber doch etwas konkreter. „Das Verhängnis ist, dass jede Einkäuferin weiß, was ein Kilo Butter kostet oder ein Kilo Rindfleisch oder ein Liter Milch.“ Bei einem relativ eng begrenzten Portfolio solcher Grundnahrungsmittel unterböten sich die Lebensmittelkonzerne deshalb, um Kunden anzulocken. Aber: „Das sind in der Regel die Produkte, die eigentlich für den Bauern wichtig sind, weil der Anteil an der Wertschöpfung da besonders hoch ist für ihn“, erklärte der Ministerpräsident. Nur wenn ein kultureller Wandel gelinge, sei es möglich, von den „Krücken“ der aktuellen Subventionspolitik zu einem vernünftigen Markt zu kommen. In dem müsse dann auch Naturschutz als Geschäftsmodell funktionieren. Jens Schmitz NA SOWAS Heiraten kann so einfach sein. In Zeiten, in denen Hochzeiten nicht aufwendig genug sein können, steuert die Evangelische Kirche in Pforzheim gegen mit der Aktion „Einfach heiraten!“. Am 24. Februar können sich Paare zwischen 14 und 20 Uhr in der Schlosskirche St. Michael das Jawort geben, die ohne Tamtam heiraten, ihr Trauversprechen erneuern oder sich segnen lassen wollen. Geplant sei eine kleine Zeremonie und ein Erinnerungsfoto. Zudem werde ein Musiker auf der Gitarre spielen oder als DJ auflegen. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Man muss aber standesamtlich geheiratet haben und Mitglied einer evangelischen Landeskirche sein. epd Rhein Schleuse zeitweise voll gesperrt Iffezheim. Die Schleuse Iffezheim (Kreis Rastatt) soll an diesem Donnerstag bis zum Nachmittag voll gesperrt werden. Wie das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Oberrhein am Mittwoch mitteilte, muss nach Wartungsarbeiten an der linken Schleusenkammer überprüft werden, ob die Kammer reibungslos funktioniert. Dafür werde man Probeschleusungen durchführen. Das rechte Schleusentor ist seit einer Havarie Mitte November vergangenen Jahres außer Betrieb. dpa Gewalt 24-Jähriger schlägt Helfer Bopfingen. Unfall verursachen, Helfer schlagen und einen Abhang herunterstürzen: Damit hat ein 24-Jähriger im Ostalbkreis Polizei und Feuerwehr auf den Plan gerufen und sich schwer verletzt. Sein Wagen war am Dienstagabend wegen eines geplatzten Reifens von der Straße abgekommen. Der junge Mann schlug einem zur Hilfe kommenden Zeugen ins Gesicht und flüchtete. Dabei stürzte er 15 Meter tief auf Bahngleise hinab. In seinem Auto lagen Alkoholflaschen. dpa Zoll entdeckt Walfleisch Auf dem Weg in die Tiefe: ein Wal vor der Küste Norwegens. Der Mannheimer Zoll hat jetzt in einer Postsendung aus Norwegen ein großes Stück Walfleisch entdeckt und beschlagnahmt. Dem Zoll zufolge gab der Empfänger an, bei der Sendung handle es sich um ein Geschenk eines Freundes. Der Zoll wies darauf hin, dass Wale vom Aussterben bedroht sind und dem Artenschutz unterliegen. dpa/Foto: Andreas Clasen Zuwanderung Geld für Frauenförderung Stuttgart. Das Land stellt für die Unterstützung von Frauen mit Zuwanderungsgeschichte in diesem Jahr zusätzliche Mittel in Höhe von mindestens 250 000 Euro zur Verfügung. Dies erklärte Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha (Grüne) in einer Mitteilung. Gefördert werden etwa Kommunen sowie freie Träger. Das Programm soll den Frauen helfen, ihr Potenzial zu entfalten. Die Anträge sind bis zum 29. Februar beim Regierungspräsidium Stuttgart abzugeben. swp

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